Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, bis zum 1. November die Gasspeicher auf 90 Prozent zu füllen. Damit im Winter die Versorgung für zwei bis drei Monate sichergestellt ist, und auch die Industrie am Laufen bleibt, selbst wenn Putin Europa den Gashahn komplett abdrehen sollte.
Doch Russland hat die Erdgaslieferungen jetzt schon erheblich gedrosselt. Die Energiepreise steigen mit der weltweit hohen Nachfrage. Der Druck wächst also. Derzeit sind die Speicher nach Angaben der Bundesnetzagentur zu etwa 57,6 Prozent gefüllt, was im Vergleich zu den 38 Prozent im Vorjahr zwar mehr ist, aber eben noch nicht genug.
Wieviel Gas kann durch Kohle gespart werden?
Die Kapazität der Erdgaskraftwerke in Deutschland liegt bei 28 Gigawatt, im bisherigen Jahresverlauf wurden davon mit knapp 14 Gigawatt knapp die Hälfte genutzt. Würde man alle derzeit aktiven plus die reaktivierten Braun- und Steinkohlekraftwerke zu 100 Prozent auslasten, könnte eine Erdgas-Kraftwerksleistung von rund 9,5 Gigawatt ersetzt werden. Das entspricht gut zwei Drittel der bisher im Jahr 2022 genutzten Kapazitäten bei den Erdgaskraftwerken (siehe Grafik).
Höhere CO2-Emissionen durch Kohlekraftwerke
Die Emissionen werden steigen, das steht fest. Nach Berechnungen von Volker Quaschning von der Hochschule für Technik und Wirtschaft entsteht bei der Verbrennung von Braunkohle rund doppelt so viel Kohlendioxid bezogen auf den Energiegehalt wie bei der Verbrennung von Erdgas. Bei Steinkohle sind die Emissionen nicht ganz so hoch. (Quelle: Tageschau).
Wirtschaftsminister Robert Habeck bezeichnete die Maßnahme, wieder verstärkt auf Kohle zu setzen, deshalb als "bittere Entscheidung". In der derzeitigen Situation bliebe jedoch keine andere Wahl, um einen Gasmangel im Winter zu vermeiden.
Das sieht auch Anke Herold so, Geschäftsführerin des Freiburger Öko-Instituts und Expertin für europäische und nationale Klimapolitik. Man müsse ganz deutlich unterscheiden zwischen einer kurzfristigen Politik für die nächsten zwei Winter und dem mittelfristigen Plan, die Energiewende herbeizuführen. Der vorübergehende Einsatz von Kohle "bedeutet noch nicht, dass wir in der Gesamtbilanz an unseren Klimazielen scheitern, weil diese Situation gleichzeitig bedeutet, dass wesentlich stärker auf erneuerbare Energien gesetzt wird," erklärt die Expertin im Interview mit SWR2.
Erst vor Kurzem habe die EU ihr Ziel, erneuerbare Energien auszubauen von 40 auf 45 Prozent erhöht. Außerdem würde das Emissionshandelssystem die Emissionen deckeln. Für die Emissionen der Kohlekraftwerke muss Deutschland zusätzliche CO2-Zertifikate kaufen. Wenn es zeitweise mehr davon bräuchte, müssten an anderer Stelle Emissionen eingespart werden.
Klimaziel kann immer noch eingehalten werden
Auf einen Ausgleich der Emissionen setzt auch David Pfeifer, Energieexperte beim Umweltbundesamt. Auch er betrachtet das Emissionsziel von 2030 nicht als gefährdet. Erstens würden die Kohlekraftwerke nur dann zusätzlich eingesetzt werden, wenn tatsächlich Gasmangel herrscht, erklärt der Energieexperte. Gleichzeitig sollen weitere Maßnahmen im Energie- sowie im Privatsektor dazu führen, dass Emissionen an anderer Stelle eingespart werden. "Unterm Strich könnte es auch dazu kommen, dass sich das wieder ausgleicht durch die anderen Sektoren", erklärt Pfeifer im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk.
Experten erwarten jetzt eine „Entfesselung“ der Erneuerbaren
"Sollten unsere Kohlekraftwerke als Reserve gebraucht werden, ist das keine Rolle rückwärts, sondern allenfalls ein Schritt zur Seite für eine begrenzte Zeit," erklärt Frank Weigand, Vorstandsvorsitzender der RWE Power AG in einem schriftlichen Statement. Das Energieunternehmen bereitet derzeit drei Kohlekraftwerke, die im Herbst hätten stillgelegt werden sollen, auf einen möglichen Einsatz vor. Den vereinbarten Kohleausstieg stellt das Unternehmen jedoch nicht infrage.
Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) wiederum empfindet die derzeitige Diskussion immer noch als viel zu rückwärtsgewandt. Im Tagesgespräch auf Bayern2 fordert die Energieökonomin die Einführung eines Geschwindigkeitsprogramms zum Ausbau erneuerbarer Energien.
"Wir reden nur wie die vergangenen 15 Jahre über vergangene Techniken und eben nicht über die Zukunft. Und das hindert uns daran, dass zu schaffen, was wir gut können." Claudia Kemfert, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
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