Der Begriff der Übersterblichkeit bezieht sich auf die Sterberate der Bevölkerung: Wenn deutlich mehr Menschen sterben, als es statistisch gesehen sonst in einem bestimmten Zeitraum üblich ist, sprechen Demografen von Übersterblichkeit. Medial präsent wurde der Begriff mit dem Aufkommen des Coronavirus. So hat die Pandemie in Deutschland besonders 2020 und 2021 zu Übersterblichkeit geführt. Die genauen Zusammenhänge sind aber nicht immer einfach herzustellen.
Zahlen für 2022: Übersterblichkeit besonders im Oktober erhöht
Bislang liegen die monatlichen Sterbezahlen in Deutschland für 2022 im Schnitt neun Prozent über den jeweiligen mittleren Werten aus den Jahren 2018 bis 2021. Dies sei eine signifikante Erhöhung der Sterblichkeit, so Jonas Schöley vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock. Bereits die Sterberaten der Sommermonate Juni, Juli und August sind erhöht: Hier ergaben sich Werte von neun Prozent, zwölf Prozent und elf Prozent über den jeweiligen mittleren Werten von 2018 bis 2021.
Laut Statistischem Bundesamt liegt das wohl an den besonders hohen Temperaturen im Hitzesommer 2022 und an den im Zeitraum gestiegenen Covid-19-Fällen. Dass Hitzewellen einen messbaren Effekt auf erhöhte Sterblichkeit haben können, zeigte zuletzt eine Auswertung des Robert Koch-Instituts. Endgültige Klarheit über die Ursachen gibt es aber erst Mitte 2023. Dann veröffentlicht das Statistische Bundesamt eine abschließende Einordnung, auch unter Einbeziehung des Alterungsprozesses der Bevölkerung und der Todesursachenstatistik.
Grafik: Übersterblichkeit im Jahresvergleich
Hohe Übersterblichkeit: überlastete Krankenhäuser als Ursache?
Auch im September und besonders im Oktober 2022 blieb die Übersterblichkeit mit zehn Prozent beziehungsweise 19 Prozent über dem entsprechenden Mittelwert der vergangenen vier Jahre. Und das kann aktuell weder ausschließlich auf Covid-19 noch auf eine Hitzewelle zurückgeführt werden. Das Statistische Bundesamt weiß dafür noch keine endgültigen Faktoren zu nennen. Diesbezüglich diskutiert wird, dass unzureichende Vorsorge während der Corona-Pandemie oder der Personalmangel in den Krankenhäusern die Zahlen in die Höhe treibe.
Jonas Schöley sieht die hohen Werte des Statistischen Bundesamtes auch durch seine Berechnungen bestätigt: "Das ist schon eine substanzielle Übersterblichkeit, die man auch robust nachweisen kann. 2020 war es eins zu eins: Covid-Sterbefälle und Übersterblichkeit hingen klar zusammen. Auch 2021 wurde das meiste noch von Covid-Sterblichkeit erklärt. Im Herbst 2022 lässt sich nur noch in etwa die Hälfte mit registrierter Covid-Sterblichkeit erklären. Der Rest, da ist noch offen, woran das liegt. Ich halte aber für plausibel, dass wir im Jahr 2022 die indirekten Effekte mehr zu sehen kriegen."
Nach Corona: Herausforderungen für die Gesundheitsbranche
Jonas Schöley führt das Beispiel England und Wales an. Hier sei die Übersterblichkeit teilweise dadurch verursacht, dass man weitaus länger als zehn Minuten auf einen Krankenwagen warten müsse. Und das habe mit der Überlastung des Krankenhaussystems zu tun, und damit indirekt mit der Corona-Pandemie.
Göran Kauermann, Statistikprofessor an der LMU München, sieht einen möglichen Grund für die hohen Zahlen im Oktober in Grippeinfektionen. Darüber könne man aber nur mutmaßen. Seine Berechnungen bestätigen zwar die Werte des Statistischen Bundesamtes, Kauermann macht jedoch klar, dass sich die aktuelle Sterblichkeit im Rahmen der üblichen statistischen Variation bewege. Darüber hinaus zeige sich an seinen Daten, dass die Zahlen aktuell wieder fallen. Kauermann weist ähnlich wie Schöley auch darauf hin, dass es in den vergangenen Jahren schon stärkere Ausschläge gegeben habe. Als ein Beispiel für die Zeit vor der Corona-Pandemie kann hier die Grippewelle der Saison 2017/2018 angeführt werden.
Zusammenfassend bleibt noch ein unklares Bild zu den Ursachen für die kurzfristig stark erhöhten Oktober-Zahlen zurück. Ein Grund für Panik sind die Werte nicht. Sie zeigen jedoch, dass es einige Herausforderungen in der Gesundheitsbranche gibt, die nicht mit der Corona-Pandemie verschwunden sind: Sei es der systemische Personalmangel, aufgeschobene Untersuchungen oder Krankheitserreger wie der Grippevirus.
- Zum Artikel: Grippe: Darum ist eine Impfung wichtig
Lebenserwartung in fast allen Ländern gesunken
In den Bereich des präventiven Schutzes gehört auch die Impfbereitschaft, die international variiert. Die statistische Lebenserwartung seit Beginn der Pandemie ist mit wenigen Ausnahmen weltweit gesunken, die Sterblichkeit folglich gestiegen - so die Ergebnisse eines Artikels im Fachjournal "Nature Human Behaviour".
Das Forschungsteam um Jonas Schöley führt das auf die Corona-Pandemie zurück. Bei der Untersuchung der Daten aus 29 Staaten sei auch deutlich geworden, dass ein Zusammenhang mit der Impfquote in der Bevölkerung bestehe. Je geringer der Anteil der vollständig Geimpften in der Bevölkerung, desto stärker sei die Lebenserwartung gesunken.
Einschränkend muss hier jedoch betont werden, dass die Arbeit von Schöley einen direkten kausalen Zusammenhang zu der Impfung nicht herzustellen vermag. Nichtsdestotrotz ist bereits in anderen Studien nachgewiesen worden, dass das Risiko, am Coronavirus zu sterben, mit einer Impfung abnimmt. Die von Schöleys Team hervorgehobene Korrelation zwischen Impfstatus und Lebenserwartung ist also naheliegend.
Besonders in Osteuropa und in den USA nimmt Sterblichkeit zu
Regional gesehen machen die Ergebnisse klar: Mit Ausnahme Sloweniens hatten in den beiden Pandemiejahren vor allem osteuropäische Staaten einen Abfall der Lebenserwartung zu verzeichnen. In den meisten Ländern Osteuropas ist die Impfquote verhältnismäßig gering. Ende 2021 lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Bulgarien beispielsweise 43 Monate unter der von 2019.
Aber auch in den USA sind die Werte alarmierend: Die Lebenserwartung fiel 2020 und 2021 um 28,2 Monate. Deutschland hingegen liegt mit 5,7 Monaten im unteren Mittelfeld. Jonas Schöley sagt: "Bestehende Ungleichheiten in der Bevölkerungsgesundheit sind generell durch die Pandemie verschärft worden. Je geringer die Lebenserwartung einer Bevölkerung vor der Pandemie, desto höher, tendenziell, die Lebenserwartungsverluste während der Pandemie. Die Schere hat sich folglich weiter geöffnet."
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