Seit Juli steigen die Corona-Zahlen in ganz Deutschland wieder an. Am 19. September kletterte die Zahl der gemeldeten Neuinfizierten auf einen neuen Höchstwert seit April. Bayernweit ist vor allem München im Fokus des Infektionsgeschehens: Die Stadt liegt weiter über dem Grenzwert von 50 Neuinfektionen in sieben Tagen pro 100.000 Einwohnern - nun werden in der Landeshauptstadt Maßnahmen zum Infektionsschutz ergriffen.
In vielen Bundesländern lag der Anstieg der Corona-Fälle zunächst an den Reiserückkehrern - in München waren sie zeitweise für zwei Drittel aller neuen Fälle verantwortlich. Bundesweit waren es etwa 40 Prozent, die sich im Ausland angesteckt haben. Das liegt aber wohl auch daran, dass sich Reiserückkehrer verhältnismäßig häufiger haben testen lassen. Seit Ende August nimmt der Anteil der Rückkehrer unter den positiv Getesteten wieder ab.
Regionale Verteilung der Fälle
Anders als in den Wochen zuvor ist das Infektionsgeschehen nicht nur auf einzelne Einrichtungen wie Alten- und Pflegeheime oder Schlachthöfe zurückzuführen, sondern findet wieder flächendeckend statt.
Die regionale Verteilung der Fälle sieht ähnlich aus wie im Frühjahr. Süd- und Westdeutschland sind ähnlich stark betroffen, im Norden und Osten fallen nur die größeren Städte wie Hamburg und Berlin auf. Die folgende interaktive Grafik zeigt diese Entwicklungen für Deutschland im zeitlichen Verlauf. Wählen Sie einen Punkt aus, können Sie die Kurven der 7-Tage-Inzidenzen miteinander vergleichen:
Mehr Tests = Mehr Infizierte?
Auch die Anzahl an Tests spielt eine Rolle: Wird mehr getestet, kommen mehr positive Ergebnisse zu Tage. In der Woche vom 7. September wurden in Deutschland 1,12 Millionen Corona-Tests durchgeführt – ein neuer Rekord. Der Anteil der positiven Testergebnisse ist jedoch in den vergangenen Wochen in etwa gleich geblieben. Tatsächlich werden laut Gesundheitsbehörden vor allem Fälle von Infizierten mit mildem Krankheitsverlauf gefunden, die ansonsten womöglich unentdeckt geblieben wären. Um Infektionsketten zu durchbrechen, ist das wichtig, und, um Infizierte mit asymptomatischen Verläufen zu entdecken.
Was ist die zweite Welle?
Der Begriff der "zweiten Welle" ist wissenschaftlich schwer zu fassen, noch unmöglicher klar zu definieren. Das Phänomen der zweiten Welle rührt eigentlich von der Spanischen Grippe her, die im Frühjahr 1918 ausbrach und im Herbst desselben Jahres in einer zweiten, stärkeren Welle wiederkehrte.
Auf BR-Anfrage schreibt das Robert Koch-Institut (RKI), dass der Begriff "Welle" nicht klar definiert und auch nicht definierbar ist und daher vom RKI auch nicht verwendet wird. Das unterstreicht auch Katrin Grimmer, Leiterin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL):
"Eine mögliche zweite Welle hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel der konsequenten Einhaltung von Infektionsschutzmaßnahmen, der Mobilität der Bevölkerung und der schnellen Ermittlung und Identifikation von Fällen, Clustern, Ausbrüchen und Kontaktpersonen." Katrin Grimmer, LGL
Belastungsgrenze für Gesundheitssystem
Während für die Wirtschaft eine zweite Welle wohl mit einem erneuten Lockdown einhergehen würde, reichen manchen schon steigende Infektionszahlen. Für wieder andere geht damit einher, wenn zum einen die Infektionszahlen sehr stark steigen und lokal nicht mehr isoliert betrachtet werden können, zum anderen das Gesundheitssystem an die Belastungsgrenze kommt. Zweiteres ist noch nicht der Fall, kann aber passieren. Gesundheitsminister Jens Spahn schrieb auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, dass das Gesundheitssystem aktuell gut mit der Situation umgehen kann.
Stecken wir in der zweiten Welle?
Für Ulrike Protzer, Direktorin des Instituts für Virologie an der TU München, macht auch ein exponentieller Anstieg an Infektionen eine zweite Welle aus. Den haben wir noch nicht.
"Ich glaube, wir können im Moment noch nicht sagen, ob wir am Beginn einer zweiten Welle sind oder ob wir das Ganze wieder in den Griff bekommen. Und das hängt natürlich sehr davon ab, wie jetzt alle mitmachen. Wir haben eine gute Chance, das wieder einzubremsen, aber da sind wir natürlich auch extrem darauf angewiesen, dass die Menschen mitmachen." Ulrike Protzer, Direktorin des Instituts für Virologie, TU München
Trotzdem müssten wir wachsam sein. Einen Anstieg der Zahlen hätte man im Oktober oder November erwartet. Die richtige Erkältungswelle kommt erst noch. Protzer sieht einen Grund dafür auch darin, dass die Menschen durch die Urlaubszeit lockerer mit Distanz und Abstandsregeln umgegangen sind. Daher wäre es jetzt umso wichtiger, "dass wir wirklich versuchen, das Übertragungsrisiko zu minimieren. Und dann können wir hoffentlich eine zweite Welle wie in Spanien oder Frankreich verhindern", so Protzer im BR-Gespräch. Dennoch: Die Zahlen steigen zwar ähnlich wie zum Beginn der Pandemie, mittlerweile weiß man aber viel mehr über das Virus, ist besser vorbereitet.
Mehr junge Infizierte durch private Feiern
Das momentane Infektionsgeschehen in Deutschland kann also noch nicht mit dem im Frühjahr gleichgesetzt werden. Auch wenn die Anzahl der Neuinfektionen steigt: Die Altersverteilung hat sich verändert. Das Durchschnittsalter der Corona-Infizierten ist laut Oliver Keppler, Virologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München, mittlerweile von 50 auf 34 Jahre gesunken. Die folgende Tabelle zeigt diese Veränderung nach Meldewochen aufgeschlüsselt:
Jüngere Menschen machen meist eine milde Infektion durch, müssen seltener ins Krankenhaus. Und auch ein tödlicher Ausgang der Krankheit ist bei jüngeren Patienten seltener. So lässt sich erklären, warum trotz zeitweise wieder starkem Anstieg der Infektionszahlen die Mortalitätsrate in Deutschland noch immer recht niedrig ist. Mitte April, als der Anteil der über 70-Jährigen an den Neuinfizierten fast ein Viertel ausgemacht hat, lag sie bei sieben Prozent. In den vergangenen Wochen sind nach den aktuellsten Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) lediglich 0,2 Prozent der Corona-Infizierten verstorben.
Keine vorschnellen Schlüsse
Hier muss allerdings aufgepasst werden, dass die Infektionen nicht von Jüngeren auf Ältere und Risikogruppen überspringen. Virologe Oliver Keppler weist im BR-Gespräch nochmals darauf hin, dass gerade private Feiern dafür gefährlich und in vielen Fällen verantwortlich sind. Zwar würden sich ältere Menschen selbst viel besser schützen als noch vor einem halben Jahr, aber es ist vor allem Aufgabe der Jüngeren, sie zu schützen. Auch Virologin Protzer sieht hier vor allem die Jungen in der Verantwortung für ihre Eltern und Großeltern. Sonst könnte es mit einer Verzögerung von ein paar Wochen auch in diesen Altersgruppen wieder mehr Fälle geben, die dann eher im Krankenhaus behandelt werden müssen und tendenziell eher einen schweren Verlauf nehmen.
An der Altersverteilung der Coronafälle hängt also ein wichtiges Merkmal einer möglichen zweiten Welle: die Aus- beziehungsweise Überlastung des Gesundheitssystems. In der vergangenen Woche lag die sogenannte Hospitalisierungsrate bei fünf Prozent. Von 8.124 Corona-Infizierten, zu denen entsprechende Angaben gemacht wurden, mussten 437 stationär im Krankenhaus behandelt werden. Zum Vergleich: Mitte April lag diese Rate bei 22 Prozent.
Auslastung der Krankenhäuser
Die Krankenhäuser in Deutschland kommen momentan gut mit der Lage zurecht. In Bayern sind die Intensivstationen derzeit zu etwas mehr als zwei Dritteln ausgelastet. Bereits seit dem Sommer müssen die Krankenhäuser gar keine Intensivbetten mehr freihalten. Die bayerische Krankenhausgesellschaft sieht sich vorbereitet: Mitarbeiter wurden geschult, Abläufe geändert, Lager aufgefüllt.
"Wir müssen nicht nur auf die Anzahl der Infektionen schauen, sondern wir müssen auch schauen, ob mehr Menschen ins Krankenhaus aufgenommen werden. Das zeigt uns, ob die Zahl der relevanten Infektionen wieder steigt. Relevant sind die, die ins Krankenhaus müssen. Und wenn die wieder anfangen zu steigen, müssen wir wirklich eine Bremse ziehen." Ulrike Protzer, Direktorin des Instituts für Virologie, TU München
Auch aufgrund dieser Auslastungslage wäre es vielleicht verfrüht, jetzt bereits von einer zweiten Welle zu sprechen. Allerdings ist die von Virologe Oliver Keppler erwähnte verzögerte Entwicklung bereits erkennbar: Der Anstieg der Fallzahlen im Juli und August betraf vor allem Menschen unter 60 Jahren. Seit Kalenderwoche 37 verzeichnet das RKI auch wieder mehr Infektionen in den Altersgruppen darüber. Sollte sich dies fortsetzen, könnte die Hospitalisierungsrate schnell wieder ansteigen.
Reisen, Schulen, schlechtes Wetter
Clemens Wendtner, Chefarzt der München Klinik Schwabing, erklärt im BR-Interview, dass die erste Welle eigentlich nie ganz zum Stoppen gekommen ist. Ob das jetzt ein Aufflammen der ersten oder bereits eine zweite Welle ist, ist Definitionssache. Fakt ist, dass wir gerade "unglückliche Gesamtumstände" haben, wie Wendtner es nennt, da in den nächsten Tagen das Wetter schlechter wird. Menschen halten sich wieder vermehrt in den Innenräumen auf, das Virus kann sich besser verbreiten. Aus infektiologischer Sicht dürften auch die Schulöffnungen nicht unterschätzt werden. Er rechnet daher mit einem weiteren Anstieg. Ob der bis Jahresende oder auch darüber hinaus anhält, ist nach Ansicht von Wendtner rein spekulativ.
Infektionen in europäischen Nachbarländern
Spanien, Österreich und Frankreich verzeichnen gerade deutlich steigende Infektionszahlen mit teilweise dramatischen Ausmaßen. In Südfrankreich füllen sich die Intensivbetten in den Krankenhäusern wieder, eine Überlastung ist möglich.
"Man muss da sehr vorsichtig sein, auch mit Blick auf unsere europäischen Nachbarländer. Wenn man die Dinge von Anfang an kleinreden möchte, nicht ernst nimmt, dann können Dinge passieren wie wir sie jetzt in Frankreich und Spanien sehen, wo wir die 10.000 an Neuinfizierten pro Tag mittlerweile überschritten haben." Clemens Wendtner, Chefarzt der München Klinik Schwabing
Zweite Welle unterschiedlich
Virologe Oliver Keppler spricht beispielsweise für Israel von einer zweiten Welle, da hier die Infektionszahlen deutlich höher liegen als im März oder April. Parallel gehen auch die Todeszahlen stark nach oben. In Brasilien hingegen gibt es (noch) keine zweite Welle, dort zeichnet sich eher eine durchgehende erste Welle ab, da die Infektionszahlen konstant hoch bleiben.
Fazit: Noch keine zweite Welle?
Zwar legen die hohen Infektionszahlen eine zweite Welle nahe, doch noch ist das Gesundheitssystem nicht stark belastet. Das wird allerdings nur so bleiben, wenn der größte Anteil der Corona-Neuinfektionen innerhalb der jüngeren Bevölkerungsgruppe bleibt. Gerade private Feierlichkeiten bergen ein hohes Risiko, dass Infektionen auch auf ältere Menschen und Risikogruppen überspringen. Bleibt der Trend bestehen, dass in dieser Gruppe die Infektionen steigen, ist mit höheren Hospitalisierungsraten und steigenden Todeszahlen zu rechnen.
Wollen wir das verhindern, müssen wir uns und andere schützen und die notwendigen Hygienemaßnahmen konsequent einhalten: Mindestabstand von 1,5 bis zwei Metern, Händewaschen, das Tragen von Alltagsmasken und das Meiden von Großveranstaltungen.
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