Nahezu stündlich stehe er mit seinen afghanischen Mitarbeitern im vor Kurzem von den Taliban eingenommenen Dschalalabad in Kontakt, sagt Reinhard Erös von der Kinderhilfe Afghanistan. Die Hilfsorganisation, die er zusammen mit seiner Frau Anette leitet, ist schon seit 2002 im Osten des Landes aktiv.
30 Schulen mit rund 60.000 Schülerinnen und Schülern betreibt die Kinderhilfe, außerdem eine Universität mit knapp 2.000 Studierenden. Auch Photovoltaikanlagen und Krankenstationen hat die Kinderhilfe aufgebaut.
Alle Mitarbeiter derzeit sicher
Die Stimmung bei seinen Mitarbeitern sei derzeit gelassen. "Den Mitarbeitern geht es gut, alle sind sicher und es hat auch keiner Angst", sagt Erös. Das in Deutschland dominierende Bild von einer nun herrschenden Brutalität in den übernommenen Gebieten betreffe seine Mitarbeiter - von denen ein Großteil Frauen sind - nicht, so der ehemalige Bundeswehr-Arzt. Alle Projekte habe seine Organisation im "Hotspot der Taliban" schon immer mit den örtlichen Verantwortlichen, Geistlichen und moderaten Taliban abgesprochen. "Das hat wunderbar geklappt die ganzen Jahre", sagt Erös. Kein Mitarbeiter und keine Mitarbeiterin sei jemals verletzt oder entführt worden. "Jetzt warten wir ab, was sich die nächsten Tage ergibt und dann machen wir - das ist meine feste Überzeugung - unsere Arbeit der letzten 20 Jahre weiter."
Absprachen mit Taliban haben funktioniert
Reinhard Erös ist auch optimistisch, dass manche Befürchtungen nach einer Machtübernahme der Taliban nicht eintreffen werden. So zum Beispiel die Sorge, dass Mädchen nun der Schulunterricht landesweit verwehrt werden könnte. An den Schulen und an der Universität der Kinderhilfe würden zahlreiche Mädchen und Frauen unterrichtet. "Bei uns - im Taliban-Hotspot-Gebiet - hat das die letzten Jahre wunderbar in Absprache mit den Taliban funktioniert", sagt Erös. "Warum sollen die jetzt plötzlich ihre Meinung ändern?" Viele Taliban seien heute moderner und sich bewusst, dass Fehler des Terrorregimes in den 90er-Jahren nicht wiederholt werden dürfen, so der Leiter der Kinderhilfe. Dazu habe auch das Internet beigetragen.
Land braucht Ärztinnen
Auch lokale Umstände würden bei der Überzeugungsarbeit helfen. Die Taliban hätten gemerkt, dass sie ohne Schulbildung für Mädchen keine Ärztinnen mehr bekommen. Da Frauen in Afghanistan traditionell aber von Ärztinnen versorgt werden sollen und nicht von Ärzten, gebe es einen Bedarf nach gut ausgebildeten Frauen, sagt Erös. "Das sind alles aus unserer Sicht 'Kleinigkeiten', aber dort spielt das eine ganz entscheidende Rolle", sagt der Arzt.
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