Vergangenen Freitag sind Busunternehmer Marco Eichhorn aus Nürnberg und sein Team voller Tatendrang an die ukrainisch-polnische Grenze gefahren. Drei Busse voll mit Medikamenten, Hygieneartikeln, Decken, Schlafsäcken und Lebensmitteln, finanziert vor allem durch Spenden von Fans des Eishockey-Erstligisten Nürnberg Ice Tigers. Auf dem Rückweg hätte Eichhorn Platz für 164 geflüchtete Menschen gehabt. Doch dann die Ernüchterung: Kaum einer wollte mitfahren. Vor allem die Frauen hatten Angst.
Gerücht: Frauen werden zur Prostitution gezwungen
Auf seinem Gang durch das Flüchtlingslager in Mlyny wurde Marco Eichhorn mit einem bösen Gerücht konfrontiert: Die Deutschen nähmen zwar Frauen und Kinder mit, wurde da erzählt, aber die Frauen würden zur Prostitution gezwungen. Frauen, die zu alt dafür seien, setzten Menschenhändler im Niemandsland aus. Gegen dieses Gerücht sei er nicht angekommen, berichtet Eichhorn. Alle in seinem Team hätten sich registrieren lassen, ihre Ausweise vorgezeigt, hätten mit den polnischen Soldaten zusammengearbeitet. Doch weder diese Sicherheitsmaßnahmen noch die Psychologin oder der Dolmetscher, die der Busunternehmer mit dabeihatte, konnten die Angst der Frauen zerstreuen.
Busse fahren halbleer nach Nürnberg zurück
156 Menschen hätte Marco Eichhorn mit nach Nürnberg nehmen können. Nur 56 Frauen und ihre Kinder trauten sich. Zwei Drittel der Plätze in den Bussen blieben frei. Marco Eichhorn ist enttäuscht und ernüchtert, auch wenn er Verständnis für die Angst der Frauen hat. "Weil man sieht das Leid, das da vor Ort ist, möchte ihnen helfen", sagt er. Das Lager sei zwar bestens organisiert, so sein Eindruck, doch die Geflüchteten, vor allem Frauen und Kinder, lägen dicht an dicht auf Feldbetten, ohne jede Privatsphäre und ohne die Möglichkeit, sich zu waschen.
Slowakische Flüchtlingshelferin: Polizei untersucht zwei Vorfälle
Die slowakische Hilfsorganisation People in Need kennt das Gerücht von den deutschen Menschenhändlern. Ob die Frauen Grund haben, sich zu fürchten, kann die Direktorin Andrea Najvirtova nicht sagen. Seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine ist People in Need an der Grenze im Einsatz. Stellt Zelte auf, versorgt Geflüchtete mit Essen, Wasser und Medikamenten, betreut sie psychologisch. Eine Woche lang war Andrea Najvirtova selbst vor Ort. In der Zeit habe sie nur von zwei Fällen gehört, in denen es zu sexuellen Übergriffen gekommen sein soll. Die slowakische Polizei habe diese Vorfälle untersucht und sehr ernst genommen.
Bislang keine Vorfälle an den Grenzen bekannt
Auf Twitter kursieren aktuell Warnungen vor Menschenhändlern. Auch Organisationen, die sich speziell um das Thema kümmern, wissen von dem Gerücht.
Der bundesweite Koordinierungskreis Menschenhandel, der 39 Mitgliedsorganisationen unter seinem Dach vereint, schreibt auf Anfrage von BR24:
"Im KOK können Mitarbeiterinnen einiger Mitgliedsorganisationen bestätigen, dass die Flüchtlinge mitunter von Angst vor Vergewaltigungen und Misshandlungen gezeichnet sind. Inwiefern diese berechtigt oder lediglich Gerüchte sind, darüber haben wir keine verifizierbaren Informationen." KOK – Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
Angst vor den Helfern aus Deutschland "verständlich"
Hinweise darauf, dass das Gerücht über die deutschen Menschenhändler an der Grenze zur Ukraine von Russland gezielt in Umlauf gebracht wurde, gibt es nach Erkenntnissen von BR24 bislang nicht. Dass es auf fruchtbaren Boden fällt, ist aus Sicht der People in Need-Direktorin Andrea Najvirtova nachvollziehbar. Sie wirbt um Verständnis: Die geflüchteten Menschen seien in einer Ausnahmesituation.
"Es sind meistens Frauen, Frauen mit Kindern, ältere Menschen, die tagelang gegangen sind, die stundenlang gewartet haben, die ihre Familie zurückgelassen haben in der Ukraine, ihre Männer sind geblieben und befinden sich in Gefahr. Die Menschen sind unter Schock. Sie haben schreckliche Situationen erlebt und leiden unter Stress und Trauma. Es ist verständlich, dass sie Angst haben." Andrea Najvirtova, Hilfsorganisation People in Need
Die Behörden in der Slowakei haben nach Najvirtovas Darstellung inzwischen ein Sicherheitssystem installiert. Wer in den Lagern vor Ort freiwillig helfen will, muss sich bei anerkannten und registrierten Organisationen oder bei staatlichen Institutionen melden. Wer Flüchtlinge privat aufnehmen möchte, wird von einer zentralen Stelle überprüft und muss sich bei der Polizei registrieren. Ziel sei es, dass die Menschen vor allem in staatlich organisierten Zentren unterkommen, berichtet Andrea Najvirtova von People in Need. "Dort können die Leute besser geschützt werden."
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