Ein ICE stößt mit einem Regionalzug zusammen – ein Horrorszenario. Der Unfall von Reichertshausen Mitte November mit mehreren Leichtverletzten hätte nach Einschätzung einiger Experten in einer Katastrophe enden können. Bei anderen Eisenbahnunfällen in Bayern hatte es Todesopfer gegeben: ob im schwäbischen Aichach, in Bad Aibling oder im Garmisch-Partenkirchener Ortsteil Burgrain. Oft waren dabei mehrere Faktoren oder Fehler zusammenkommen – und die Ursachenforschung ist komplex und langwierig.
Technik aus vergangenen Zeiten
Ursache für die vielen Probleme ist das komplexe Bahnsystem mit einer Technik aus drei Jahrhunderten, die aus vielen Komponenten besteht. Sie ist verknüpft und wird in einem Bahnsystem verwendet, das immer stärker genutzt wird und weiter wachsen soll. Gleichzeitig klagt die Bahn über Personalnot und nutzt eine Infrastruktur, die über Jahrzehnte vernachlässigt worden ist. Andere sagen auch "kaputt gespart", wenn man die Investitionen vergleicht, die in Straße und Schiene gehen.
Markus Hecht, der erfahrene Sicherheitsexperte und Professor für Bahntechnik aus Berlin, spricht ein Problem an bei der Aufarbeitung von Bahnunfällen: "Es kommt nur wenig dabei heraus: dass Bestrafen des einzelnen, wenn das System oder die Organisation ungenügend ist, nichts nutzt und von den eigentlichen Ursachen ablenkt."
Ursachen für einen Bahnunfall gibt es viele. Sehr oft ist es menschliches Fehlverhalten. Zum Beispiel bei Unfällen an Bahnübergängen, wenn Autos oder Menschen von einem Zug erfasst werden. Aber eben nicht nur. Denn manchmal gibt es Defekte oder einfach fehlende zeitgemäße Technik. Davon zeugen die vielen unbeschrankten Bahnübergänge. Oder es geht um ein gestörtes Zusammenspiel von Mensch und Technik. So hätte moderne Technik wohl verhindert, dass es zu dem Bahnunglück von Aichach vor fünf Jahren gekommen ist. Sensoren im Gleis und an den Schalthebeln melden heutzutage einem Computer, wenn ein Zug auf ein Gleis gelenkt werden könnte, wo bereits ein anderer Zug steht. In einem solchen Fall werden eine Warnsirene und ein blinkendes Warnlicht aktiviert.
Regionalzug war bei Aichach auf stehenden Güterzug aufgefahren
Eine solche Anlage hätte womöglich auch den Zusammenstoß zweier Züge im schwäbischen Aichach verhindern können. Im Mai 2018 waren bei dem Zugunglück ein Lokführer und eine Frau gestorben, drei Passagiere wurden teilweise schwer verletzt, insgesamt gab es 14 Verletzte.
Der von Augsburg nach Ingolstadt fahrende Regionalzug war wenige Hundert Meter vor dem Bahnhof Aichach frontal auf die Lok eines stehenden Güterzuges aufgefahren. Der Fahrdienstleiter hatte einen Fehler gemacht, und den Regionalzug auf das falsche Gleis geleitet. Er wurde später wegen fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Gefährdung des Bahnverkehrs zu einer zehnmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Er konnte den Gerichtssaal als freier Mann verlassen.
Die Nachrüstung von rund 600 Stellwerken mit der Warntechnik begann und sollte ursprünglich im Jahr 2024 abgeschlossen sein.
Veraltete Signaltechnik auch beim Zugunglück von Bad Aibling
Auch beim Zugunglück von Bad Aibling im Februar 2016 waren zwei Meridian-Regionalzüge wegen falsch gestellter Weichen und Signale frontal zusammengestoßen. Dabei starben zwölf Menschen. 89 wurden schwer verletzt.
Das Unglück ereignete sich auf einer eingleisigen Strecke. Durch Bedienfehler des Fahrdienstleiters wurde das Sicherungssystem "ausgehebelt." Im Prozess wies ihm das Gericht Pflichtvernachlässigung nach und er wurde wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt.
Notrufsystem und Fahrdienstleiter-Ausbildung wurden seither verbessert
Das Stellwerk in Bad Aibling ist unverändert in Betrieb. Aber das Notrufsystem im Stellwerk wurde nach dem Unfall verändert. Statt zwei Knöpfen gibt es nur noch einen. So ist es nicht mehr möglich, wie beim Unfall einen falschen Knopf zu drücken, sodass die Lokführer nicht erreicht werden. Außerdem hat die Deutsche Bahn das Training der Fahrdienstleiter intensiviert. Sie üben jetzt auch auf Simulatoren, und es wird stärker auf die Gefahr von Ablenkung im Dienst hingewiesen. Zudem gebe es "engmaschige Kontrollen". Das erfuhr der BR fünf Jahre nach dem Unglück auf Nachfrage.
Das Unglück von Burgrain im Sommer 2022
In Burgrain ist am 3. Juni 2022 ein Regionalzug der Bahn auf dem Weg von Garmisch-Partenkirchen Richtung München in einer Kurve entgleist. Bei dem Unglück sind vier Frauen und ein 13-Jähriger gestorben. Nach dem Unglück und wegen des Unglücks hat die Bahn begonnen, rund 200.000 Betonschwellen der verwendeten Bauart zu überprüfen. Die Reparaturarbeiten an der Strecke haben Monate gedauert.
Langwierige Ermittlungen nach dem Unglück von Burgrain
Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen fünf Bahn-Mitarbeitende wegen fahrlässiger Tötung, inzwischen wurden zwei Verfahren eingestellt. Schnell haben sich Bahnexperten gemeldet und darauf hingewiesen, dass auch andere Gründe für die Entgleisung eine Rolle gespielt haben könnten. Ihr Verdacht, ein Wildbach hat durch Fehlkonstruktion den Bahndamm unterspült und weich gemacht.
Exakt ein Jahr nach dem Unglück hat die Bundesstelle für Eisenbahnuntersuchung (BEU) im Juni 2023 ihren Zwischenbericht vorgestellt. Zentrale Aussage: "Die an dieser Stelle verlegten Spannbetonschwellen wiesen Beschädigungen auf, die auf einen Verlust der Vorspannung innerhalb der Schwelle schließen ließen. Diese führten in der Folge zu einem Versagen der Struktur und zum Wegbrechen der Schienenauflager in Richtung der eingeleiteten Kräfte."
Burgrain-Prozess noch nicht terminiert
Doch auch nach fast eineinhalb Jahren ist offen, wann es zum Prozess kommt. Bahnmitarbeiter erhoffen sich von dem Verfahren, dass Missstände im System ans Licht kommen. Die Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) hat BR24 jetzt im November mitgeteilt, dass sie unabhängig von der Staatsanwaltschaft Ermittlungen durchführt. Die Unfalluntersuchung sei noch nicht abgeschlossen. "Ziel der Unfalluntersuchung ist es, die Ursachen des Ereignisses aufzuklären und die Sicherheit des Eisenbahnsystems zu verbessern." Die Ergebnisse der Unfalluntersuchung der BEU werden jeweils in einem frei zugänglichen Untersuchungsbericht veröffentlicht. Den kann jeder herunterladen und ausdrucken.
Gefährliche Bahnereignisse - ohne Entgleisung oder Zusammenstoß
Am Fronleichnamstag, am 8. Juni dieses Jahres, kam es zu einem bahnbetrieblichen Zwischenfall auf der Bahnstrecke München-Salzburg zwischen Teisendorf und Traunstein. Zwei Schnellzüge vom Typ Railjet der Österreichischen Bahn wären beinahe zusammengestoßen. Denn der Railjet Richtung München wurde auf ein Gleis gelenkt, auf dem bereits der Zug Richtung Salzburg wartete. Zu dem Zeitpunkt war nach bisherigen Erkenntnissen der Bundespolizei die Signalanlage gestört. Weil der Lokführer des herannahenden Zugs die Gefahr erkannt hatte und die Notbremsung auslöste, kam dessen Railjet schließlich rechtzeitig zum Stehen. 80 Meter vom anderen Zug entfernt. Die Ermittlungen, warum der eine Schnellzug auf das Gleis geleitetet wurde, wo bereits der andere stand, sind noch nicht abgeschlossen.
Nicht alle Zwischenfälle werden gemeldet
Wenn auf einem Bahnhof etwas passiert, ein Zug beim Rangieren entgleist oder gegen etwas stößt, ohne dass Menschen zu Schaden kommen, dann kann es gut sein, dass darüber nichts bekannt wird. Die Bahn hat naturgemäß wenig Interesse, dass so etwas bekannt wird. Auch andere Vorfälle und Beinahe-Unfälle bleiben "unter der Decke", wenn kein Außenstehender geschädigt wird und niemand nachfragt – das bestätigen Insider BR24.
Ermittlungen im Bahnbereich sind besonders aufwändig
Wenn doch etwas passiert, dann sind Ermittlungen im Bahnbereich deutlich komplizierter, als nach Unfällen im Straßenverkehr. Um einen Sachverhalt aufzuklären, muss Technik überprüft sowie Unterlagen, Vorschriften und komplizierte Regelwerke studiert werden, ob tatsächlich ein Fehlverhalten vorliegt.
Auch die Zuständigkeit ist nicht einheitlich. Je nach Vorfall oder Unfall ist die Bundespolizei mehr oder weniger zuständig. Gibt es Tote, führt immer die Landespolizei die Ermittlungen. Das Eisenbahnbundesamt ist beteiligt und die Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU). Was die Ermittler zutage fördern, geht an die Staatsanwaltschaft und die entscheidet, ob sie weitere Maßnahmen ergreift, Strafbefehle erlässt oder Anklagen erhebt.
Rückstand bei der Netz-Instandhaltung wird nicht aufgeholt
Der Instandhaltungsrückstand im Deutschen Bahnnetz liegt bei 89 Milliarden Euro bundesweit. Diese Zahlen sind, seit sie der Bahnvorstand für Infrastruktur veröffentlicht hat, allgemein bekannt. Bayern ist das größte Flächenland in Deutschland mit dem längsten Netz, laut Bayerischer Eisenbahngesellschaft umfasst es etwa 6.500 Kilometer und rund 1.000 Bahnhöfe. Viele davon sind einfach Haltepunkte, weil die Bahnhöfe daneben längst verschwunden, verfallen oder verkauft sind.
Bayern liegt zurück
Vor allem die Regionalstrecken wurden über Jahrzehnte vernachlässigt, es gibt eine hohe Zahl von Langsamfahrstrecken. Praktisch täglich kommen neue dazu, sagen Lokführer BR24. Auf Instandhalter wird Druck ausgeübt, den Verkehr aufrechtzuerhalten. Weil ein Etat, der übers Jahr reichen sollte, bereits im Sommer ausgegeben ist, können Maßnahmen nicht in der geplanten Zeit abgeschlossen werden.
Die Nachrüstung mit modernster Technik ist beabsichtigt und vielfach beschlossen. Aber es wird noch Jahrzehnte dauern, bis sie überall eingebaut ist. Deutschland hinkt in vielen Bereichen bei der Bahn hinterher, jedenfalls im europäischen Vergleich. Bayern hinkt gleichzeitig im Bahnbetrieb im Deutschlandvergleich hinterher: bei der Ausrüstung von Bahnübergängen, bei den Stellwerken und bei der Elektrifizierung der Strecken.
Bahn sicherstes Verkehrsmittel im Vergleich – trotz allem
Für die Alltagsmobilität in Deutschland relevant sind von den motorisierten Landverkehrsmitteln das Auto, Züge und Busse. Das bei weitem sicherste Verkehrsmittel in Deutschland ist die Eisenbahn. Im Zehnjahresschnitt von 2012 bis 2021 war das Risiko für Reisende, mit dem Zug tödlich zu verunglücken, 55-mal geringer als für Insassen eines Autos. Diese Zahlen hat die Allianz pro Schiene erhoben. Der Verband sieht sich als Interessenorganisation zur Förderung und Verbesserung des Schienenverkehrs in Deutschland. Laut dieser Vergleichsstudie fällt der Sicherheitsvorsprung der Bahn bei den schweren Verletzungen sogar noch größer aus. Vergleicht man da die Sicherheit von Zug und Auto pro Personenkilometer ist das Risiko einer schweren Verletzung bei jeder Autofahrt gut 164-mal höher als bei einer Bahnfahrt.
Zahl der Bahn-Fahrgäste in Bayern steigt
Und es gilt zu bedenken, dass nach einem Einbruch während der Coronazeit jetzt wieder mehr Menschen mit der Bahn fahren. DB Regio meldet bundesweit sogar 25 Prozent. In einzelnen besonders beliebten Nahverkehrsstrecken in Bayern sind es noch mehr, etwa auf den touristisch attraktiven Strecken zu den Bergen und Seen, so die Auskunft der Bayerischen Eisenbahngesellschaft. Auch die langlaufende Regionalverbindung, also Züge, mit denen man besonders weit kommt, ohne umzusteigen, sind sehr beliebt. Gerade dann, wenn sie als Alternative zu einem ICE oder anderen Fernverkehrszügen benutzt werden können.
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