"So einen Verkehrskollaps hat Mittenwald noch nie erlebt", sagt Bürgermeister Enrico Corongiu (SPD) wenn er an die beiden Samstage in den Faschingsferien zurückdenkt. Kilometerlange Staus, stundenlange Wartezeiten auf der B2 Richtung Grenze. Auch im Ort ging nichts mehr. Navigationssysteme leiteten die Fahrzeuge kreuz und quer durch Mittenwald.
Das Resultat: Irgendwann ging gar nichts mehr. Autos, teilweise sogar Wohnwagengespanne fuhren auf Feldwegen und Radwegen. Für den Rettungsdienst gab es kein Durchkommen. Die örtliche Feuerwehr musste ausrücken und das Verkehrschaos regeln, berichtet Corongiu.
Mittenwald versinkt im Verkehrschaos
Da, wo die Verkehrszählstelle normal 6.000 Fahrzeuge am Tag misst, waren es auf einmal fast viermal so viele. 23.000 Fahrzeuge wurden am zweiten Faschingsferiensamstag gezählt. Eine Situation, die nicht mehr tragbar sei, so Enrico Corongiu im BR24-Interview. Zahlreiche Bürger beschwerten sich direkt bei ihm. Tagelang stand das Telefon im Rathaus nicht mehr still.
Weil sich die Situation in den letzten Jahren immer mehr aufgeschaukelt hat, initiierte der Rathauschef einen runden Tisch mit Politikern aus Bayern und Tirol, Vertretern von Polizei und Behörden. Doch schnell wurde klar: In Deutschland gibt es keine rechtliche Handhabe, um dem Verkehrschaos Herr zu werden. Das Oberland ist anscheinend ein echter Präzedenzfall. Ganz anders ist die rechtliche Situation in Österreich.
Tirol macht es vor und erlässt Verbote
Um Anwohnende vor dem Ferienreiseverkehr zu schützen, haben die Behörden des österreichischen Bundeslandes Tirol bereits seit 2019 Ausweichrouten entlang wichtiger Durchgangsstrecken in besonders verkehrsintensiven Zeiten gesperrt. So durfte etwa auf der Inntalautobahn, der Fernpass-Route und im Großraum Innsbruck nicht abgefahren werden.
Die Fahrverbote in Tirol werden auch in die Navigationsgeräte eingespielt. Dadurch werden die gesperrten Strecken bei einem Stau erst gar nicht als Alternativrouten angezeigt. Zusätzlich werden die Sperren vor Ort von der Polizei und privaten Sicherheitsdiensten überwacht. Wer sich den Anordnungen widersetzt, dem droht eine Geldstrafe in Höhe von bis zu 726 Euro. Diese Fahrverbote gelten nicht für den Ziel- und Quellverkehr sowie für Anrainer und Anrainerrinnen.
Grundlage für die entsprechenden Einzelverordnungen sei die österreichische Straßenverkehrsordnung, erklärt Lea Knabl vom Amt der Tiroler Landesregierung auf BR24-Nachfrage. Ziel seien die Aufrechterhaltung der Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs sowie der Schutz der Bevölkerung. Der Verordnungserlassung gehe immer eine intensive Analyse der Verkehrsströme und Beurteilung durch Fachleute voraus.
Straßensperren in Bayern nur bei "Gefahr im Verzug"
Der rechtliche Rahmen lässt in Österreich Straßensperrungen und auch etwa die Blockabfertigung leichter zu als in Deutschland. Laut Wolfgang Rotzsche, Sprecher des Landratsamts Garmisch-Partenkirchen, wäre hierzulande eine Straßensperrung nur bei "Gefahr im Verzug" möglich. Bisher werde das etwa bei einem Unfall angewendet oder wenn eine Straße aufgrund von Lawinenabgängen oder Steinschlag gefährlich sei.
Ob Abfahrverbote auch in Bayern rein präventiv, etwa an typischen Reisewochenenden, verhängt werden können, müsse erst mit den zuständigen Behörden im Freistaat und auf Bundesebene geklärt werden. Auf BR24-Nachfrage beim bayerischen Verkehrsministerium heißt es von einem Sprecher: "Verkehrsverbote und andere Einschränkungen des fließenden Verkehrs können nur ultima ratio sein, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Über die gegebenenfalls erforderlichen Maßnahmen entscheiden die mit den verkehrlichen und örtlichen Verhältnissen bestens vertrauten zuständigen Behörden vor Ort." Nach den gesetzlichen Vorgaben der bundesweit geltenden Straßenverkehrs-Ordnung dürften Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden, wenn wegen der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage bestehe, fasst der Ministeriumssprecher zusammen.
Bald Abfahrverbot auf B177 in Tirol?
Um das Seefelder Plateau vom Verkehr zu befreien, prüfen die Tiroler Behörden derzeit, ob auch hier Fahrverbote für den Ausweichverkehr sinnvoll sind. Laut Lea Knabl vom Amt der Tiroler Landesregierung würden derzeit Experten des Landes die Verkehrsdaten in der Region analysieren und an einer zielgerichteten Lösung arbeiten. Zum aktuellen Zeitpunkt liegen jedoch noch keine entsprechenden Verordnungen vor. Jedoch ist der Druck aus der Region groß, so könnte es schon bald zu einem Abfahrtsverbot auf der Seefelder Straße B177 kommen.
Der Leutascher Bürgermeister Georgios Chrysochoidis beruft sich im BR24-Interview auf die unerträgliche Verkehrssituation in den Faschingsferien auf der Strecke zwischen Scharnitz und Seefeld sowie in den Orten Leutasch und Seefeld. Er verspreche sich eine erhebliche Verkehrsentlastung davon, wenn der Durchgangsverkehr nicht mehr das Seefelder Plateau belaste. Jedoch braucht es seiner Meinung nach eine überregionale Lösung. Letztlich müsse die B177 unattraktiv für "Autobahnausweicher" werden, sagt Chrysochoidis. Eine Idee hierfür ist auch eine Dosierampel in der Nähe des Magic-Castles bei Seefeld in Tirol.
Angst vor Rückstau im Oberland
Auf bayerischer Seite wird der mögliche österreichische Vorstoß kritisch begleitet. Mittenwalds Bürgermeister Enrico Corongiu kann sich sogar vorstellen, dass sich das Verkehrschaos auf bayerischer Seite noch verschlimmert, wenn es zu einem Rückstau kommt. Jedoch sei das ein Blick in die Glaskugel, gesteht er im BR24-Gespräch. Gleichwohl könnte sich die Verkehrssituation auch entzerren, wenn Dosierampel und Abfahrtsperrungen in Navigationsgeräten ihren Niederschlag fänden. So könnte eine großflächigere Umfahrung die Folge sein und das Oberland vor Blechlawinen verschont werden.
Auch im bayerischen Verkehrsministerium ist man auf Habacht-Stellung. Auf die BR-Nachfrage stellt Bayerns Verkehrsminister Christian Bernreiter (CSU) klar: "Der alpenquerende Verkehr ist nicht nur für Bayerns Wirtschaft und Bevölkerung, sondern für ganz Europa von großer Bedeutung. Verbote und Dosierungen helfen zwar vielleicht punktuell, lösen aber nicht das großräumige Problem." Weiter betont er, verkehrliche Maßnahmen auf Tiroler Seite dürften nicht zulasten Bayerns gehen und müssten gut abgestimmt sein. Bernreiter begrüßt den Austausch zwischen den Verantwortlichen in Tirol und im Oberland als einen Schritt in die richtige Richtung.
Druck für bayerische Lösung steigt
Im Rathaus in Mittenwald und im Landratsamt in Garmisch-Partenkirchen unterstreicht der Vorstoß der Österreicher den Handlungsbedarf in Deutschland. Für Corongiu ist damit auch der Druck für eine zeitnahe Lösung in Bayern gestiegen. Sein Appell an die Bundespolitik geht dahin, endlich eine rechtliche Handhabe zu bekommen, vergleichbar der in Österreich.
Auch Wolfgang Rotzsche, Sprecher des Landratsamts Garmisch-Partenkirchen, war bei einem Runden Tisch mit Vertretern aus Bayern und Österreich dabei. Neben einem Verkehrskongress und einer engen Zusammenarbeit sei auch ein grenzüberschreitendes Euregio-Projekt zur Ermittlung der Verkehrsflüsse angedacht. Die daraus resultierenden Schlüsse sollen zu einer überregionalen Verkehrslösung führen. Denn allen Beteiligten ist klar: Nur gemeinsam und großflächig kann der Blechlawine Paroli geboten werden.
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