Ein blau-weiße Bayernfahne mit dem Wappen des Freistaats Bayern weht im Wind (Symbolbild).
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"Goldstandard" - Bayerns Verfassung wird 75 Jahre alt

"Goldstandard" - Bayerns Verfassung wird 75 Jahre alt

188 Artikel, per Volksabstimmung angenommen: Die Bayerische Verfassung steht zwar hinter dem Grundgesetz, gilt aber als wegweisend in vielerlei Hinsicht. Entstanden ist sie in den Wirren der Nachkriegszeit - nun wird sie 75 Jahre alt.

Nein, an Superlativen mangelt es nicht für dieses kleine Büchlein mit seinen 188 Artikeln. Vom "Goldstandard modernster Staatlichkeit" spricht die bayerische Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU), von einem "Juwel im Recht" schwärmte einst der frühere Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof. Gemeint ist die Verfassung des Freistaats Bayern, der die Menschen in Bayern vor genau 75 Jahren per Volksabstimmung zustimmten.

Bayerische Verfassung ist vom Volk legitimiert

Womit wir schon bei der ersten Besonderheit dieser Landesverfassung wären: Sie ist, anders als etwa das Grundgesetz, direkt vom Volk legitimiert. Knapp 71 Prozent Zustimmung gab es seinerzeit für den Verfassungstext - entstanden in Zeiten großer Unsicherheit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie ernst und fragil jene Wochen und Monate waren, zeigt schon die Präambel:

Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat, in dem festen Entschlusse, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechtes dauernd zu sichern, gibt sich das Bayerische Volk, eingedenk seiner mehr als tausendjährigen Geschichte, nachstehende demokratische Verfassung.

1946: Bayern bekennt sich zu geeintem Europa

Eine zentrale Lehre aus zwölf Jahren Faschismus und NS-Diktatur steht direkt in Artikel 3a: "Bayern bekennt sich zu einem geeinten Europa" und "arbeitet mit anderen europäischen Regionen zusammen". Klar geregelt ist zudem, was schon 1949 Wirklichkeit werden sollte und jegliche Seperatismus-Überlegung bis heute klein hält: "Bayern wird einem künftigen deutschen demokratischen Bundesstaat beitreten."

Auch sonst finden sich in der Bayerischen Verfassung einige, besonders für die damalige Zeit bemerkenswerte Inhalte. Grund- und Menschenrechte, unabhängige Richter, Volksbegehren und -entscheide, die Bedeutung der Opposition, das Recht auf eine "angemessene Wohnung", der Anspruch auf Sozialversicherung und bezahlten Jahresurlaub, die Möglichkeit eines Mindestlohns - alles in der Verfassung vorgegeben.

Nicht zuletzt zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen findet sich für die damalige Zeit Erstaunliches: "Männer und Frauen erhalten für gleiche Arbeit den gleichen Lohn." Erfüllt ist das freilich auch 75 Jahre später nicht - weiter gibt es auch im Freistaat Berufe und Anstellungsverhältnisse, bei denen Frauen für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt werden als Männer. Das Beispiel mahnt: Eine gute Verfassung ist wichtig - aber sie muss von Politik und Gesellschaft auch mit dem zugedachten Leben erfüllt werden. Das gilt auch für Artikel 151, ebenfalls gerne zitiert: "Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesonders der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle (...)."

Sozialdemokratische Handschrift, überparteilicher Konsens

Schon die genannten Artikel zeigen: Bayerns Verfassung trägt eine sozialdemokratische Handschrift. Als "Vater der Verfassung" gilt der SPD-Politiker Wilhelm Hoegner, während der NS-Zeit im Schweizer Exil. Als der Zweite Weltkrieg vorbei war, machte sich Hoegner zurück auf den Weg in den Freistaat. Im Rucksack hatte er laut einem Zeitzeugen "ein Margarine-Brot, drei Äpfel und 23 Gesetzentwürfe für das befreite Bayern, darunter den Entwurf der bayerischen Verfassung". Kurz darauf ernannte die US-amerikanische Besatzungsbehörde Hoegner zum Ministerpräsidenten.

Beraten wurde sein Entwurf überparteilich, in erster Linie mit SPD-Politikern und Vertretern der 1945 gegründeten CSU. Die verfassungsgebende Landesversammlung tagte im Sommer und Frühherbst 1946 in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München, in deren Lichthof drei Jahre zuvor die Gruppe um die Geschwister Scholl ihre Flugblätter gegen den NS-Staat verteilte hatte und dafür schließlich hingerichtet wurde. Ziel und Auftrag der Versammlung, die in der weitgehend noch zerstörten Universität stattfand: Der Freistaat sollte nach 1919 erneut eine demokratische Verfassung erhalten.

Bayerische Verfassung gilt seit 8. Dezember 1946

Rund zwei Monate und einige Änderungsvorgaben der US-Amerikaner später war der Verfassungstext fertig. Am 1. Dezember 1946 kam es zur Volksabstimmung, in Kraft trat die Bayerische Verfassung eine Woche später. Drei Jahre lang regelten die Paragraphen das Zusammenleben im Freistaat - bis 1949 das Grundgesetz hinzukam. Dadurch verlor die Bayerische Verfassung zwar an Bedeutung ("Bundesrecht bricht Landesrecht"), sie büßte aber keineswegs alle Gültigkeit ein. Die Verfassung "setzt Werte, die nicht verhandelbar sind", sagte Landtagspräsidentin Aigner bei einer Podiumsdiskussion im Landtag Ende Juli. "Sie führt den Freistaat Bayern als Demokratie nach vorne."

Die Rolle des Landtags, der Aufbau der Staatsregierung, die zentrale Kontrollfunktion des Verfassungsgerichtshofs: Bayerns Verfassung schuf das bis heute gültige Gerüst des Freistaats. Angepasst wurde der Text in den vergangenen 75 Jahren einige Male. Schon seit 1980 ist beispielsweise der Umweltschutz festgeschrieben: "Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung." Seit 1995 gibt es zusätzlich zu Volksentscheiden auf Landesebene die Möglichkeit, auf kommunaler Ebene Bürgerbegehren anzustrengen und Bürgerentscheide durchzuführen.

Kinder als "köstlichstes Gut eines Volkes"

Sprachlich hat Bayerns Verfassung an manchen Stellen beinahe lyrisches Potenzial. Denn folgender Satz stammt nicht von Goethe, Schiller oder Hölderlin - sondern es handelt sich um Artikel 125, Absatz 1: "Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes." Und klar: Nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich ist diese Stelle wichtig. "Die Zukunft unserer Kinder immer im Auge zu haben, das hat einen großen Stellenwert, eine große Wertigkeit", sagte die langjährige Landtagspräsidentin Barbara Stamm (CSU) dem BR vor einigen Jahren über ihren persönlichen Lieblings-Paragraphen.

Beinahe hätte die verfassungsgebende Versammlung Bayern übrigens einen eigenen Staatspräsidenten beschert. Nach langem Ringen endete die Abstimmung in der verfassungsgebenden Versammlung vor gut 75 Jahren schließlich mit 85 zu 84 Stimmen gegen ein solches Amt - andernfalls gäbe es zusätzlich zum bayerischen Ministerpräsidenten möglicherweise bis heute einen bayerischen Staatspräsidenten oder eine Staatspräsidentin.

Gestattet: "Aneignung wildwachsender Waldfrüchte"

Visionär, klug - und in Teilen auch kurios: So lässt sich Bayerns Verfassung charakterisieren. Verantwortlich für den kuriosen Teil ist in erster Linie der im Volksmund "Schwammerl-Paragraph" getaufte Artikel 141, der unter anderem Pilzsammler zu ihrem Recht bringt:

Der Genuß der Naturschönheiten und die Erholung in der freien Natur, insbesondere das Betreten von Wald und Bergweide, das Befahren der Gewässer und die Aneignung wildwachsender Waldfrüchte in ortsüblichem Umfang ist jedermann gestattet.
Bildrechte: Bayerisches Hauptstaatsarchiv
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Stimmzettel für den Volksentscheid über die Bayerische Verfassung am 1. Dezember 1946

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