Michael Stolze wirkt mitgenommen, aber auch erleichtert. Er empfängt uns in seinem Büro im Rathaus von Markt Schwaben, das er sich in den vergangenen vier Jahren ganz persönlich eingerichtet hat. Viele Familienfotos zieren seinen Schreibtisch, ein Kalender mit motivierenden Sprüchen steht dort und am Fensterbrett vier große, bunt bemalte Buchstaben: P-A-P-A. Eigentlich hatte er Pläne für zwei Amtsperioden, wollte längerfristige Projekte umsetzen; das, was er früher bei seinem Job in der freien Wirtschaft gelernt hatte, auch erfolgreich hier im Rathaus anwenden. Doch der 53-jährige Familienvater kann und will nicht mehr. Was er selbst sehr bedauert.
Erleichterung nach Rücktritts-Entscheidung
Es gab nicht den einen, entscheidenden Moment, erzählt er. Seine Rücktritts-Entscheidung war ein schleichender Prozess, über Wochen, Monate. Ihm sei immer klarer geworden, auch durch Gespräche mit seiner Frau und seinen Freunden: So kann's nicht weitergehen.
Jetzt, da er sich entschieden habe und es auch öffentlich verkündet worden sei, dass er sein Bürgermeisteramt zum 31. Mai niederlegen werde, gehe es ihm schon viel besser. Er merke von Stunde zu Stunde mehr Erleichterung.
Familie und Gesundheit gehen vor
Von seinen Bürgermeisterkolleginnen und -kollegen aus dem Landkreis Ebersberg, von der Belegschaft im Rathaus, aber auch von Bürgerinnen und Bürgern aus Markt Schwaben habe er nach seiner Ankündigung überwiegend positive Rückmeldungen erhalten. Viele könnten seinen Schritt nachvollziehen, würden ihn darin bestärken, dass es eine richtige Entscheidung sei, erzählt Stolze. Er habe auch Dank bekommen für seine Arbeit in den vergangenen Jahren.
Renate Keller, die als Assistenz der Abteilungsleitung Bauen und Umwelt im Rathaus arbeitet, möchte gar nicht so gerne über den Abschied des Bürgermeisters sprechen. Sonst müsse sie wieder heulen, meint sie. Sie sei traurig, dass Michael Stolze als Bürgermeister aufhöre. Dennoch könne sie den Schritt nachvollziehen, denn zu viel sei zu viel. Der Job, findet Renate Keller, ist das eine. Aber das eigene Leben, die Gesundheit, die Familie gehen vor. "So schwer es mir fällt und so leid es mir tut, ich kann's nachvollziehen", sagt sie und umarmt Michael Stolze.
Geplante Flüchtlingsunterkunft spaltet die Menschen im Ort
Auch wenn er darüber erzählt, wie es zu seinen Problemen im Job gekommen sei und warum er sich selbst nicht mehr in der Lage sieht, weiterhin Bürgermeister von Markt Schwaben zu bleiben, stehen ihm fast die Tränen in den Augen. Das ganz große Thema, sagt er, sind Kontroversen und die anhaltenden Unstimmigkeiten über die geplante Flüchtlingsunterkunft im Ort. Er habe es wahrscheinlich total unterschätzt, dass dieses Thema so hohe Wellen schlagen würde.
Seit Anfang Dezember stehe Markt Schwaben Kopf. "Es hat sich eine Bürgerinitiative gegründet, ein Bürgerbegehren ist gestartet worden. Im Gemeinderat ist es nicht nur kontrovers, sondern so weit diskutiert worden, dass es zu Zerwürfnissen führt."
"Mittlerweile spricht man davon, dass in Markt Schwaben Gräben aufgemacht sind, dass es die Spaltung vorangetrieben hat. Das sind alles Dinge, die hab ich so nie beabsichtigt. Ich wollte nur dafür sorgen, dass man mit dieser Pflichtaufgabe vernünftig umgeht und die Menschen richtig und würdig nicht nur unterbringt, sondern auch betreut. Letztlich ist es mir nicht gelungen, die Menschen davon zu überzeugen, dass das funktionieren kann. Es ist mir nicht gelungen, zu vermitteln." Michael Stolze, Bürgermeister von Markt Schwaben
"Respekt und Anstand gehen verloren"
Stolze wollte es allen recht machen - freilich sei das nicht die Aufgabe eines Bürgermeisters. Aber vielleicht, so reflektiert er selbstkritisch, sei er einfach nicht Politiker genug. "Vielleicht ist das am Ende die Erklärung, dass ich manche Sachen zu nah an mich heranlasse."
Der raue Ton im Gemeinderat, die Beleidigungen, Beschimpfungen, vor allem auch über die Sozialen Netzwerke, der regelrechte Hass, der ihm entgegenschlug, die enorme Erwartungshaltung einiger Bürger – es war nicht nur das Thema Flüchtlinge, es ist viel mehr zusammengekommen: Als Anfang Dezember viel Schnee gefallen ist und am nächsten Tag nicht überall perfekt geräumt war, wurde sowohl er als Bürgermeister als auch die Mitarbeiter des Bauhofs beschimpft, beleidigt, angefeindet.
Es seien viele kleine Beispiele, die aber in der Summe beängstigend werden, findet Michael Stolze. "Offensichtlich gehen mehr und mehr Respekt und Anstand als Werte verloren". Die Erwartungshaltung der Bevölkerung sei enorm und unrealistisch, alles müsse immer und sofort erfüllt werden. Er frage sich: Wie weit darf sich das noch entwickeln? Und: Wo hat das angefangen?
Menschen in Markt Schwaben haben Rücktritt nicht erwartet
Am Marktplatz in Markt Schwaben wissen fast alle über das Thema Bescheid. Überrascht zeigen sie sich, sie hätten nicht mit diesem Schritt von Michael Stolze gerechnet. Ein Mann erzählt, es habe ihn auch betroffen gemacht und er finde es sehr schade, denn er habe den Bürgermeister geschätzt, ihn sehr menschlich gefunden. "Ich hätte ihm gewünscht, dass er die Kraft und den Mut findet, weiterzumachen."
Eine Frau kann die Entscheidung verstehen. Sie kritisiert aber auch, dass die Problemlage von Markt Schwaben immer größer werde. "Die ganzen Flüchtlinge, die aufgenommen werden, das ist zu viel. Wenn nur noch Männer kommen, ist es für die Frauen und Mädels nicht optimal." Die Frauen wie Männer, jung und alt, mit denen wir am Marktplatz sprechen, bedauern den Schritt von Michael Stolze. Sie hätten ihn sehr gemocht, erzählen einige.
Nur eine Frau finden wir, die über den Bürgermeister schimpft und über das große, ihrer Meinung nach völlig unberechtigte Interesse der Medien an diesem Fall. Senden dürften wir ihre Aussagen aber nicht, lässt sie uns noch wissen.
Miesbacher Landrat: "Auch ich denke manchmal - warum tu’ ich mir das an?"
Der Miesbacher Landrat Olaf von Löwis musste selbst bei einer Bürgerversammlung zur geplanten Flüchtlingsunterkunft in Warngau mit Polizeischutz aus dem Gebäude gebracht werden, weil auch ihm so viel Hass und Wut von Bürgerinnen und Bürgern und einem Rosenheimer AfD-Politiker entgegenschlugen. Die Entscheidung von Michael Stolze beschäftigt auch von Löwis: Er erzählt, er habe sich hineinversetzen können. Auch er als Landrat habe immer mal wieder Momente, in denen er sich denke: Mensch, warum tu' ich mir das an?
Selbstverständlich verstehe er Michael Stolze und jeder könne seine Entscheidungen frei treffen. Er jedoch habe, auch nach dem Vorfall in Warngau, keine Sekunde gedacht, dass er den Job hinschmeiße. Denn das, so sieht es Olaf von Löwis, sei ein verheerendes Signal an die Menschen, die sich respektlos verhalten. Die Flinte ins Korn zu werfen halte er persönlich für ungeschickt, "weil du da den Gegnern nur Tür und Tor öffnest."
Video: Bürgermeister unter Druck
Immer mehr Kommunalpolitiker unter enormem Druck
Uwe Brandl, der Präsident des Bayerischen Gemeindetags, bestätigt: Michael Stolze ist nicht allein mit seiner Überforderung im Amt des Bürgermeisters. Laut Brandl stoßen immer mehr Kollegen an den Rand der Belastbarkeit. Sie fühlten sich alleingelassen. Insbesondere dann, "wenn sie selbst versucht haben, sich solidarisch zu verhalten und zu helfen", so Uwe Brandl.
Der Markt Schwabener Gemeinderat Georg Holley von der CSU steht vor dem Rathaus und diskutiert mit einem anderen Mann. Angesprochen auf den Rücktritt des Bürgermeisters zeigt er sich nachdenklich. Er habe nicht damit gerechnet, dass Michael Stolze sein Amt niederlegen würde. Er habe den Bürgermeister "sehr, sehr schätzen gelernt, auch wegen seiner ausgleichenden Art." Stolze sei sehr kommunikativ, "drum tut's mir wahnsinnig leid, dass er das Handtuch geschmissen hat", so Holley.
Der CSUler gibt sich selbstkritisch und berichtet, dass im Gemeinderat ein rauer Ton eingekehrt sei. Und er macht sich Gedanken um die Zukunft der Marktgemeinde und den neuen Bürgermeister. "Ich weiß jetzt im Moment nicht, wer soll das dann machen und wer WILL das dann auch machen?"
"Den Kommunen werden mehr und mehr Lasten auferlegt"
Michael Stolze ist sicher, dass sich ein guter Nachfolger oder eine gute Nachfolgerin findet. Er will die Zeit bis Ende Mai für eine anständige Übergabe nutzen, um seine Marktgemeinde nicht hängen zu lassen. Wie es nach seinem Rücktritt für ihn weitergehen wird, weiß er jetzt noch nicht. Eines möchte er aber noch betonen: Er will nicht als Opfer verstanden werden und will auch keine Schuldigen suchen. Die Entscheidung, sein Amt niederzulegen, sei seine alleinige.
Aber vielleicht, so meint Michael Stolze, bietet sein Beispiel auch eine gute Gelegenheit, zu hinterfragen, was es für die Kommunen bedeute, wenn ihnen - von oben - mehr und mehr Lasten auferlegt werden. "Am Ende macht das nämlich nicht nur was mit den Kommunen, sondern auch mit den Menschen", so Stolze.
Video: Interview mit Christian Erhardt-Maciejewski
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