Die Schlange vor dem Evangelischen Gemeindezentrum in der Passauer Altstadt ist lang: Männer und Frauen, überwiegend im Renten-Alter, drängen zum Eingang. Denn hier richtet die Diakonie heute das "Ma(h)l mitanand" aus, das heißt: Es gibt ein Dreigängemenü für drei Euro. Und die Plätze sind begrenzt.
50 Bedürftige nehmen an langen Tafeln Platz und freuen sich auf Hühnersuppe und Linseneintopf. "Ich bin alleinstehend. Von meinen 1.000 Euro Rente gehen 750 für Miete, Strom und ÖPNV weg. Ich bin auf Angebote wie das hier angewiesen. Und fühle mich dadurch wertgeschätzt", erzählt eine Frau. Das zweistündige Essen wirkt wie eine Pause vom schwierigen Alltag. Keine Spur davon, dass die Diakonie gerade selbst in einer großen Krise steckt. Das Werk in Passau ist insolvent und kämpft ums Überleben.
Alle Beratungsbereiche defizitär
Passaus Diakonie-Chefin Sabine Aschenbrenner dreht jeden Cent um, arbeitet an einem Sanierungsplan. Denn "Insolvenz in Eigenverwaltung" bedeutet, dass sich die Diakonie mit Hilfe externer Berater selbst aus der Krise herausarbeiten will. Im Laufe dieses Jahres soll das gelingen. Eine Mammutaufgabe, denn: "Es gibt keinen Beratungsbereich, der nicht defizitär ist", räumt Aschenbrenner ein und nimmt gleich vorweg: "Wir werden Aufgaben abgeben müssen. Ein 'Weiter so' wird es nicht geben. Da sind wir nicht die einzigen und mit Sicherheit nicht die letzten."
Vier von zehn Einrichtungen haben Angebote gekürzt
Damit hat Aschenbrenner recht. Eine bundesweite Umfrage von Arbeiterwohlfahrt, Paritätischem Wohlfahrtsverband und der Diakonie, an der sich im Herbst vergangenen Jahres mehr als 2.700 gemeinnützige Organisationen beteiligten, zeigt: 40 Prozent der befragten Einrichtungen mussten bereits Angebote und Leistungen aus finanziellen Gründen einschränken oder ganz einstellen.
Gleichzeitig ist der Bedarf an Sozialdienst- und Beratungsleistungen in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Kitaplätze sind genauso umkämpft wie Plätze im Pflegeheim oder beim Mittagessen im Gemeindezentrum. "Das ist im Moment ein Spannungsfeld, das für uns kaum auszuhalten ist. Wenn wir den sozial-psychiatrischen Dienst sehen: Wir bieten Gespräche an, die nichts kosten und außerhalb von Therapien und langen Wartezeiten sind. Wir stabilisieren die Personen. Aber rechnet sich das? Mathematisch nicht", sagt Aschenbrenner.
AWO Tirschenreuth trennt sich von Mehrgenerationenhaus
Die Diakonie Passau unterhält unter anderem ambulante Pflegedienste, Wohngemeinschaften, einen sozialpsychiatrischen Dienst sowie verschiedene Beratungsstellen zum Beispiel für Flüchtlinge, Schuldner oder Familien. Doch welche Aufgaben abgeben? Das kann Sabine Aschenbrenner im Moment nicht beantworten. Sie hofft auf Kooperationen mit anderen Wohlfahrtsverbänden. Es müssten jetzt viele Gespräche geführt werden. "Auch über Konfessionen hinweg", sagt sie.
Wie so eine Kooperation aussehen kann, zeigt ein Beispiel aus der Oberpfalz. Die AWO Tirschenreuth ist ebenfalls insolvent und hat ihr Mehrgenerationenhaus in Mitterteich an die Caritas übergeben.
Gefahr: Personalmangel trifft auf hohe Fixkosten
Zwei Probleme lassen sich aber auch durch Zusammenschlüsse nicht komplett lösen: gestiegene Kosten und Personalmangel. "Die Gelder, die wir bekommen, sind weniger als die, die wir benötigen würden, um gute Arbeit zu leisten", fasst Sabine Weingärtner die Lage zusammen. Sie ist bayerische Diakonie-Präsidentin und Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege Bayern.
Beispiel Altenheim: Gibt es zu wenig Pflegekräfte, muss eine Station geschlossen werden. Doch weniger Bewohner bringen dem Heim weniger Geld. Die Fixkosten bleiben aber weiterhin hoch. So eine Situation könne schnell in die Insolvenz führen, sagt Weingärtner. Davon sei nicht nur die Altenhilfe betroffen. Auch Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Behindertenhilfe kämpften ums Überleben.
Was die Politik deshalb laut Sabine Weingärtner liefern müsse: verlässliche Finanzierung und weniger Bürokratie, beispielsweise in der Dokumentation der Pflege. "Wir wünschen uns von den Ministerien, dass alle Akteure ministeriumsübergreifend an einen Tisch kommen."
💡 Wer finanziert Wohlfahrtsverbände?
Wohlfahrtsverbände sind in der Regel gemeinnützig und werden mit bis zu 90 Prozent aus den Sozialversicherungen beziehungsweise aus staatlichen Zuschüssen finanziert. Der Rest kommt aus Spenden, Eigenmitteln und den Beiträgen von Klienten oder Patienten. Die Diakonie und die Caritas bekommen noch Gelder aus der Kirchensteuer. Rund drei Prozent des evangelischen Kirchenhaushalts fließen laut Sabine Weingärtner in die Diakonie.
💡 Das ist die Diakonie
Zur Diakonie im Freistaat gehören 1.300 Mitgliedsorganisationen, davon sind etwa 700 Kindertageseinrichtungen. Dazu kommen 600 rechtlich eigenständige Träger vom kleinen lokalen Diakonieverein bis hin zu großen Playern, wie Diakoneo Neuendettelsau oder der Rummelsberger Diakonie.
Unter dem Dach der Diakonie in Bayern arbeiten knapp 100.000 Menschen in 3.000 Einrichtungen. In der Diakonie zusammengefasst ist die soziale Arbeit der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern. Laut deren Haushalt hat die Kirche im Vorjahr 28,4 Millionen Euro für "Diakonisches Handeln" ausgegeben.
Im Video: Wie sich die Diakonie Passau aus der Insolvenz herausarbeitet
Dieser Artikel ist erstmals am 17.01.2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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