Es ist eine Geschichte, die sich ohne Zweifel für eine True-Crime-Serie bei einem Streaming-Dienst eignet. Einige von ihnen scheinen auch schon Interesse an dem Mordfall zu haben, darauf deuten ihre Kamerateams im Gerichtssaal hin. Schlagzeilen gemacht hat der Fall unter dem Namen "Doppelgängerinnen-Mord". Weit über Ingolstadt hinaus ist dieses Verbrechen ein Thema. Nun verhandelt das Landgericht Ingolstadt seit Mitte Januar den Fall – doch jeder Verhandlungstag bringt neue Fragen.
Die Tat: der 16. August 2022
Die Tochter der Familie K. kommt nicht wie vereinbart nach Hause. Die Eltern fahren abends von München nach Ingolstadt – suchen sie. Schließlich finden sie ihr Auto. Auf der Rückbank eine leblose Person – schwer zu erkennen durch die getönten Scheiben des Mercedes-Coupés. Die Eltern gehen davon aus, es sei ihre Tochter, werden hysterisch, schreien, versuchen, die Fenster mit einem Blumentopf einzuschlagen – so schildern es später die Zeugen vor Gericht.
Ein Zweitschlüssel, den die Eltern wohl dabei haben, funktioniert nicht, erzählt ein Zeuge. Schließlich kommt die Polizei dazu. Die Beamten schlagen das Fenster ein, finden eine scheinbar schwer verletzte Frau auf der Rückbank. Sie schaffen sie aus dem Auto. Nun ist auch der Notarzt vor Ort. Jetzt erst stellen sie die zahlreichen Stichverletzungen am Oberkörper fest. Und: dass die junge Frau bereits seit einiger Zeit tot ist.
Die Eltern und die Ermittler gehen zunächst davon aus, dass es sich um Schahraban K. handelt, die Tochter der Familie K. Erst die Obduktion bringt Klarheit: Die Tote ist die junge Algerierin Khadidja O. aus Baden-Württemberg. Hauptverdächtige sind am nächsten Tag Schahraban K., die als Kind aus dem Irak nach Deutschland kam, und ihr Bekannter Sheqir K., ein 25 Jahre alter Kosovare.
Doppelgängerin: Um den eigenen Tod vorzutäuschen?
Laut Staatsanwaltschaft fand Schahraban K. in der jungen Algerierin die perfekte Doppelgängerin. Denn Schahraban K. will untertauchen, aus den strengen Familienregeln ausbrechen und mit einer anderen Identität neu anfangen, so die Staatsanwaltschaft. Über verschiedene Fake-Accounts auf Instagram soll sie dem späteren Opfer Angebote als Werbemodell gemacht haben. Eines soll sie angenommen haben. Bei dem Treffen am 16. August 2022 soll dann der Mitangeklagte Sheqir K. die junge Frau in einem Waldstück getötet haben. Laut Anklage mit 56 Messerstichen. Sein Motiv: unklar.
Die Anklagte Schahraban K. bricht ihr Schweigen nach einigen Verhandlungstagen. Ihre Stellungnahme widerspricht den bisherigen Schilderungen der Ermittler und der Staatsanwaltschaft. Sie liest ihren Text ab. Mit einer zarten Mädchenstimme: Die Schuld trage nicht sie, sondern der Mitanklagte Sheqir K. Sie sei lediglich dabei gewesen. Er habe das Mädchen in einem Wald attackiert und schwer verletzt. Sie habe ihn davon abhalten wollen. Dann habe er sie gezwungen, auf den Parkplatz einer Supermarktfiliale zu fahren. Dort habe sie das Auto verlassen und er habe Khadidja O. erstochen.
Dann habe sie zurück nach Ingolstadt fahren müssen, wo sie das Auto mit der Toten abstellten. Später sei ihr die Flucht gelungen. Das Warum bleibt in ihrer Version der Geschichte offen. Ebenso offen bleibt die Frage, warum sie sich überhaupt mit Sheqir K. an diesem 16. August traf, warum sie ihn fuhr. Auch nichts zu den Vorwürfen, das Opfer im Internet angeworben zu haben. Ihre Verteidiger sagen: Das sei alles eine Erfindung der Staatsanwaltschaft. Am Ende ihres Textes wendet sie sich noch an den Vater des Opfers: "Es tut mir leid, was passiert ist. Ich wollte nicht, dass Khadidja stirbt."
Als "besonders perfide und besonders unverfroren" erachtet der Verteidiger des Angeklagten, Thilo Bals, dieses Verhalten. Denn die Zeugenaussagen zeigten, dass diese Geschichte nicht stimme, so Bals.
Der Prozess: Juristisches Ping-Pong und viele Fragen
Der Beginn des Prozesses war gekennzeichnet von Anträgen. Zu wenig Zeit zur Vorbereitung. Die Fußfesseln der Angeklagten seien unbegründet. Dann ein Befangenheitsantrag gegen die Kammer. Anträge, die den Prozess immer wieder verzögerten, im Publikum aber für viel Spannung sorgten. Denn seit dem ersten Tag herrscht am Besuchereingang viel Andrang. Auf den Besucherrängen sitzen die Menschen Schulter an Schulter, oft über Stunden. Aus der ganzen Region kommen sie zum Prozess. "Das ist derzeit der spannendste Fall in ganz Deutschland. Würde man das im Krimi lesen, würde man sagen, sehr konstruiert. Aber das Leben ist halt immer anders", meint ein Besucher. Eine Frau kommt zu jeder Verhandlung, sie sagt: "Es ist schwer, das zu hören. Es ist ein schlimmes Verbrechen. Ich hoffe, dass es Gerechtigkeit geben wird."
Auch für die Anwälte ist es ein außergewöhnlicher Fall. In ihren schwarzen Roben liefern sie sich schnelle Wortgefechte und Paragrafen-Duelle – mal mit dem Richter, mal mit den gegnerischen Anwälten. Ein sehr spannender Fall, meint Alexander Betz, Verteidiger von Schahraban K.: "Ich muss sagen, ich hab ja erst im April den Dreifachmord von Starnberg abgeschlossen und mir dann gesagt: in den nächsten zehn Jahren kein so großes Verfahren mehr. Aber der Fall ist einfach interessant. Und die Konstellation einmalig. Da konnte ich einfach nicht widerstehen. Es ist noch so viel unerzählt von der Geschichte, es ist noch so viel offen. Und ich denke, da wird noch einiges zutage kommen."
Noch gibt es viele Unklarheiten: Was war das Motiv des mutmaßlichen Täters? Eine Zeugin spricht von Geld, ein anderer von Liebe. Wie viel Wahrheit enthält ihre Stellungnahme? Dieser Darstellung widersprechen gleich mehrere Zeugen. Und war das Opfer Khadidja O. gar keine Zufallsbegegnung aus dem Internet? Davon ging man nämlich bisher aus. Ein Zeuge meint, nein, es habe Kontakt über einen Bekannten des Angeklagten gegeben. Was wussten die Eltern von Schahraban K. ? Die Zeugen aus der Tatnacht hielten ihr Verhalten für authentisch. Eine Zeugin aber geht davon aus, sie seien in die Pläne eingeweiht gewesen. Und die Beziehung der Angeklagten zu ihrem Ex-Partner? Auch hier widersprüchliche Aussagen. Es sei eine gewalttätige Beziehung gewesen, heißt es. Eine Zeugin sagt: "Sie liebt ihn. Sie ist verrückt nach ihm."
Die Angeklagten: Von Komplizen zu Feinden
Die beiden Angeklagten sitzen in der ersten Reihe im Gerichtssaal im Landgericht in Ingolstadt. Nicht einmal zwei Meter trennen die beiden. Zwischen ihnen ein oder zwei Verteidiger von ihr. Kein Wort, keine Geste, nicht einmal einen Blick tauschen die beiden aus, die die Staatsanwaltschaft gemeinschaftlich für das grausame Verbrechen verantwortlich macht. Er groß und kräftig. Kurz geschnittene Haare, große braune Augen und Brille. Sie: klein, zierlich. Während der ersten Verhandlungstage versteckte sie ihr schmales Gesicht hinter den langen, dunklen Locken. Sie trägt eine lange schwarze Jacke, in der sie fast verschwindet. Solange Fotografen und Kameras im Saal sind, versteckt sie sich hinter einem großen, weißen Blatt Papier oder wird von ihren Anwälten abgeschirmt, die sich wie eine Mauer vor ihr aufbauen.
Wenn die beiden den Saal betreten, hört man das Klirren der Fußfesseln, die schleppenden Schritte, noch bevor man die beiden sieht. Es ist mittlerweile der sechste Verhandlungstag. Sie scheint sich an den Prozess zu gewöhnen. Denn nun dreht sie sich während der Verhandlung auch ab und an Richtung Publikum und zeigt ihr Gesicht. Ungeschminkt, zart, jung. Kaum vorzustellen, dass diese junge Frau gewalttätig wird. Ihre ehemalige Zellengenossin sagt aus: "Sie liebt die Kriminalität. Sie gibt damit an." Bei den Aussagen der Zeugin schüttelt Schahraban K. ein paar Mal energisch den Kopf.
Immer wieder lächelt sie auch ihren Anwälten zu. Sheqir K. hat sich für ein anderes Auftreten entschieden: Sein Gesicht zeigt er schon von Beginn an offen. Während der ersten Verhandlungstage wirkte er unbeteiligt, verschränkt die Arme vor der Brust, lehnte sich nach hinten. Nun schreibt er mit, macht sich Notizen, ist aufmerksam. Gefühlsregungen zeigt er keine. Auch mit seinen Anwälten spricht er fast nie während der Verhandlung. Wann er sich aber äußern wird, ist noch unklar. Was er sagen und wie er sich verteidigen wird, wird mit Spannung erwartet. Denn das Warum, das Motiv, ist weiterhin unklar.
In der Peisserstraße im Südosten Ingolstadts, wo das Auto mit der Leiche gefunden wurde, wirkt alles wie immer. Nur ein kleines weißes Kreuz an einem Baum erinnert an Khadidja O., darauf die Spanne ihres Lebens: "1999-2022".
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