Als der Erlanger Rabbiner Shlomo Lewin am 19. Dezember 1980 die Tür öffnet, fallen sofort Schüsse aus der Maschinenpistole. Lewin wird im Oberkörper und im Kopf getroffen. Der damals 69-Jährige sackt im Eingangsbereich seines Bungalows zusammen - seine Freundin Frida Poeschke eilt aus einem anderen Zimmer dazu. Auch sie wird mit mehreren Schüssen ermordet. Dann verschwindet der Täter. Es handelt sich um den damals 29-jährigen Rechtsextremen Uwe Behrendt, einen Anhänger der "Wehrsportgruppe Hoffmann" (WSG).
Bislang unbekannte Akte zu V-Mann aufgetaucht
Doch auch 42 Jahre nach dem Mord sind viele Fragen ungeklärt. Der in Jerusalem geborene Lewin kam im Kindesalter nach Deutschland, musste vor den Nationalsozialisten fliehen und kehrte erst 1960 in die Bundesrepublik zurück. Mit seiner Lebensgefährtin Poeschke setzte er sich gegen Antisemitismus und Neonazismus ein und warnte in diesem Zusammenhang öffentlich vor der paramilitärischen WSG des früheren Neonazis Karl-Heinz Hoffmann, die im Raum Nürnberg aktiv war.
Doch nun ist ein bislang unbekanntes, als geheim eingestuftes Dokument des bayerischen Verfassungsschutzes aufgetaucht, das belegen soll, dass der Geheimdienst einen V-Mann im unmittelbaren Umfeld des Täters führte – und wohl über die Mordvorbereitungen unterrichtet war. Das Papier liegt der Bundestagsabgeordneten Martina Renner (Linke) und ihrem wissenschaftlichen Mitarbeiter Sebastian Wehrhahn vor, die dazu einen Artikel in der Wochenzeitung "Die Zeit" veröffentlichten.
Wusste der Verfassungsschutz von den Mordplänen?
In dieser geheimen Quellenmeldung des Geheimdienstes soll der V-Mann und WSG-Anhänger Franz L. dem Dienst berichtet haben, dass er Hoffmann, seine damalige Lebensgefährtin und Uwe Behrendt sechs Tage vor dem Erlanger Doppelmord auf Schloss Ermreuth im Landkreis Forchheim getroffen habe. Die drei sollen laut dem V-Mann-Bericht in der Küche damit beschäftigt gewesen sein, Metallrohre für Schalldämpfer zurechtzusägen. Insbesondere Hoffmann soll durch große Vorsicht aufgefallen sein, Fingerabdrücke auf dem Material zu vermeiden.
Auch bei dem kurz danach verübten Doppelmord wurde ein selbst gebauter Schalldämpfer genutzt. Es steht also die Frage im Raum, ob der Geheimdienst wenige Tage vor dem Mord wusste, dass auf Schloss Ermreuth offenbar Schalldämpfer hergestellt wurden und von einer Gefährdungslage hätte ausgehen müssen. Denn solche Quellenberichte übermitteln V-Leute dem Verfassungsschutz in der Regel zeitnah.
Rechtsextremer Attentäter setzte sich nach Mord in den Libanon ab
Nach dem Mord setzte sich Behrendt, der vermeintliche Haupttäter, über mehrere Länder mittels der WSG in den Libanon ab. Dort trainierte er mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die mit der WSG zusammenarbeitete. Wenige Jahre später wurde Hoffmann und seiner Lebensgefährtin der Prozess vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth gemacht. Im Prozess wurde auch Franz L. vernommen. Zu diesem Zeitpunkt war nicht bekannt, dass es sich bei ihm wohl um einen V-Mann handelte. L. belastete Hoffmann vor Gericht stark.
Den Richtern habe er vorgetragen, dass er "im Dezember 1980, also kurz vor dem Erlanger Doppelmord, in Schloss Ermreuth die Utensilien zum Bau eines Schalldämpfers entdeckt hatte". So berichteten es damals Gerichtsreporter der "Nürnberger Nachrichten" (NN). Doch das Gericht glaubte am Ende Hoffmanns Darstellung, er habe damals den Prototyp für eine Schalldämpfer-Produktion angefertigt, die er im Libanon habe errichten wollen. Mit den Morden habe er nichts zu tun gehabt. Hoffmann und seine Lebensgefährtin wurden freigesprochen. Die Richter glaubten ihrer Darstellung, Behrendt sei ein Einzeltäter gewesen.
Kritik an Gericht: "Absurd, Hoffmanns Geschichte zu glauben"
Tatsächlich könnte es anders gewesen sein, sagen nun die Linken-Bundestagsabgeordnete Renner und Wehrhahn, Referent der Linken-Fraktion für Antifaschismus. Es sei völlig "absurd" gewesen, Hoffmanns Geschichte mit der Fabrik im Libanon zu glauben, sagt Wehrhahn dem BR/NN-Rechercheteam.
Durch die jetzt an die Politiker gelangte Geheimdienst-Akte wisse man inzwischen, dass L. tatsächlich ein V-Mann gewesen sei und wichtige Hinweise gegeben habe, meint Ulrich Chaussy-Wunderlich. Der mehrfach ausgezeichnete Publizist und frühere BR-Reporter ist einer der besten Kenner dieses Falls. Er hat jahrelang zur WSG, dem Oktoberfest-Attentat von 1980, für das ebenfalls ein früheres WSG-Mitglied verantwortlich sein soll, und dem Doppelmord recherchiert.
WSG-Experte: "Mord-Aufklärung geht vor Quellenschutz"
Wenn der Verfassungsschutz nichts veranlasst habe, nur um seine "Quelle" zu schützen, "dann ist der Rubikon überschritten", findet Chaussy-Wunderlich im Gespräch mit dem BR/NN-Rechercheteam. Die Aufklärung solcher Taten, wie eben Mord, gehe vor dem Schutz vertraulicher Infogeber. Die geheime Quellenmeldung mache das "damalige Versagen der Behörden erneut deutlich", sagt Martina Renner dem BR/NN-Rechercheteam. Es sei "skandalös", dass dieses Versagen bis heute nicht aufgearbeitet und korrigiert werde. Das Verbrechen an Lewin und Poeschke könne noch immer aufgeklärt werden. Denn Mord verjähre nicht.
Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz will laut Renner und Wehrhahn die Quellenmeldung und deren Bedeutung auf Anfrage nicht kommentieren und verwies auf das Bayerische Hauptstaatsarchiv, an das sämtliche Akten zu den Erlanger Morden abgegeben wurden. Allerdings würden "hinsichtlich sensibler personenbezogener Daten" gegebenenfalls Schutzfristen "einer Benützung entgegenstehen". Meldungen von V-Leuten bleiben in der Regel weiterhin unter Verschluss.
Was von der Wehrsportgruppe Hoffmann übrig blieb
Der vermeintliche Haupttäter des Doppelmords, WSG-Vizechef Behrendt, starb 1981 im Libanon – unter bis heute ungeklärten Umständen. Um Hoffmann war es nach dem Oktoberfest-Attentat und dem Erlanger Doppelmord ziemlich ruhig geworden. Denn 1980 wurde die WSG von Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) verboten, die damalige bayerische Staatsregierung lehnte das Verbot ab und verharmloste die WSG weiterhin. Bis 2012 war der ehemalige Neonazi-Führer jahrzehntelang nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten. Im April 2012 lud er dann öffentlich in eine Pilsbar in der Nürnberger Südstadt ein und kündigte an, über das Thema "Die WSG wie sie wirklich war." Klärende Worte zum Oktoberfest-Attentat" zu referieren.
Doch statt der 100 von Hoffmann erwarteten Gäste folgte nur ein gutes Dutzend auswärtiger junger Neonazis dem Aufruf, um seinem Vortrag zu lauschen. Reporter des BR waren bei der Veranstaltung anwesend. Der Verfassungsschutz nahm Hoffmanns Tätigkeiten nach diesem Auftritt verstärkt ins Visier und hörte auch dessen Telefon ab.
Doch trotz Hoffmanns Schritt in die Öffentlichkeit konnte der heute 85-Jährige seine Stellung innerhalb der rechtsextremen Szene nicht ausbauen. Wenngleich Hoffmann in den vergangenen Jahren die Öffentlichkeit suchte, erfuhren seine politischen Einschätzungen, beispielsweise zum Ukraine-Krieg, kaum Resonanz. Die von WSG-Anhängern begangenen Attentate sind nach wie vor nicht vollständig aufgeklärt.
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