Der graue Briefumschlag mit der Aufschrift "Wahlbenachrichtigung Europawahl", den tausende Haushalte bundesweit in diesen Wochen zugestellt bekommen haben, liegt auch auf dem Esstisch einer Bayreuther Familie. Für Bianca Ziegler ist es ein ganz besonderer Brief: Es ist das erste Mal, dass sie ihn zugeschickt bekommen hat. Und das, obwohl sie bereits 29 Jahre alt ist.
Bestätigung durch Recht zur Stimmabgabe
"Ich finde es sehr aufregend, dass Leute wie ich mitwählen dürfen. Es hat ja auch ganz schön lange gedauert", sagt die junge Frau. Mit "Leute wie ich" meint sie Menschen in Vollbetreuung. Bianca Ziegler sitzt im Rollstuhl, hat eine sogenannte Tetraspastik. Ihre Beine sind gelähmt und ihre Arme kann sie nur sehr eingeschränkt bewegen. Sie ist auf die Unterstützung ihrer Mutter Michaela angewiesen. "Ich denke, sie fühlt sich jetzt auch bestätigt. Denn sie sagt immer zu mir: Es heißt ja nicht, wenn ich im Rollstuhl sitze, dass ich auch geistig behindert bin oder irgendwas habe. Deswegen kann ich doch trotzdem mitentscheiden und mitwählen", so Michaela Ziegler.
2019: Änderung im Europawahlgesetz
Hintergrund ist, dass bis 2019 im Europawahlgesetz Paragraf 6a dafür gesorgt hat, dass die Bayreutherin – und mit ihr um die 20.000 Menschen allein in Bayern – vom Wahlrecht ausgeschlossen waren. Dort hieß es: "Ein Deutscher ist vom Wahlrecht ausgeschlossen, wenn […] zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist […]". Am 29. Januar 2019 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass unter anderem diese Passage verfassungswidrig sei. Das Wahlgesetz wurde geändert und festgelegt, dass bei unter Betreuung stehenden Wahlberechtigten völlig auf einen Wahlrechtsausschluss verzichtet wird. Gleichzeitig wurde in Paragraf 6 Abs. 4 a Europawahlgesetz eine Assistenzmöglichkeit verankert, die es Menschen mit Behinderung erlauben soll, ihr Wahlrecht auszuüben. Auch das Bundeswahlgesetz wurde im Juni 2019 reformiert.
Sozialverband: UN-Behindertenrechtskonvention gewahrt
Die "unterstützte Entscheidungsfindung" durch den Betreuer spiele hier eine bedeutende Rolle, so die Behindertenbeauftragte der Stadt Bayreuth, Bettina Wurzel. Dieses Assistenzprinzip und die Verankerung im Europawahlgesetz werde von Behindertenverbänden und Selbstvertretern von Menschen mit rechtlicher Betreuung sehr begrüßt, so Wurzel. Auch vom Sozialverband VdK Bayern, wie Jan Gerspach im Gespräch mit BR24 betont.
"Weil der Ausschluss von Menschen in Vollbetreuung aus unserer Sicht gegen die Menschenrechte verstoßen hat und jetzt durch den Einschluss auch die UN-Behindertenrechtskonvention gewahrt wird. Die besagt, dass Menschen mit oder ohne Behinderung gleichberechtigt am politischen Leben teilhaben können und dürfen und auch wählen sollen." Jan Gerspach, Sozialverband VdK Bayern
Keine speziell vorbereitenden Maßnahmen
Der Kreis der Wahlberechtigten habe sich durch die Gesetzesänderung vergrößert, mehr stecke nicht dahinter, heißt es auf Nachfrage beim Wahlamt der Stadt Nürnberg. "Diese Informationen [werden] wie bei jeder Kommune im Einwohnerregister gepflegt. Die Wahlberechtigten werden am 42. Tag vor der Wahl aus diesem Einwohnerregister ermittelt." Eine spezielle vorbereitende Maßnahme für vollbetreute Wahlberechtigte gebe es nicht, heißt es weiter. "Eine Unterscheidung ist vom Gesetzgeber nicht gewünscht." Das bestätigt auch Michaela Ziegler als pflegende Angehörige und fügt an, dass es auch keine Art Leitfaden für Betreuer gebe, wo Hilfen zu finden seien. "Das vermisst man", kritisiert Ziegler.
Wahlvorbereitung in leichter Sprache
Das Wahlverfahren und auch die Parteiprogramme sollen für alle zugänglich und leicht zu verstehen sein. Das legt Artikel 29 bezüglich des aktiven Wahlrechts fest. Das kann beispielsweise die Übertragung einer Wahlveranstaltung in Gebärdensprache sein, oder das Angebot sogenannter Assistenzen. "Fast alle Parteien bieten ihre Wahlprogramme in leichter Sprache an", so Jan Gerspach von der VdK Bayern. Die Bayreutherin Bianca Ziegler schaut sich beispielsweise Erklär-Videos des Beauftragten der Bayerischen Staatregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung an, die es zu allen Themenbereichen rund um die Wahl gibt.
Wahllokale oft noch nicht barrierefrei
Doch noch immer "sei Luft nach oben", so Jan Gerspach vom Sozialverband VdK Bayern. Vor allem, was Barrierefreiheit vieler Wahllokale betreffe. Ein Problem, das auch Bianca Ziegler aus Bayreuth trifft. Auch auf ihrer Wahlbescheinigung steht, dass ihr Wahlraum nicht barrierefrei zu erreichen sei. Auf Nachfrage bei der Stadt Bayreuth heißt es: "In Kooperation mit der kommunalen Behindertenbeauftragten werden immer mehr Wahllokale barrierefrei ausgewiesen." Auch weil die kommunale Behindertenbeauftragte in den Umbau von Schulen und öffentlichen Gebäuden in Bayreuth konsequent eingebunden werde. Jeder Neu- und Umbau wird entsprechend geprüft. Die Stadt Bayreuth beschäftige sich seit Jahren mit diesem Thema intensiv, heißt es weiter. Und: Die von der UN-Behindertenrechtskonvention geforderte „Gleiche Anerkennung vor dem Recht“ für Menschen mit Behinderung werde stetig verbessert.
Doch für die Europawahl musste Bianca Ziegler noch Briefwahl beantragen. Das machte sie, in dem sie selbst ihre Unterschrift unter den Antrag setzt. Damit auch ihre Stimme am 9. Juni zählt.
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