Die Lehrersituation an Bayerns Schulen führt immer wieder zu heftigen politischen Diskussionen. Vor einigen Wochen etwa beklagte die Vorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Simone Fleischmann, einen eklatanten Lehrermangel. Besonders Grund-, Mittel- und Förderschulen seien betroffen, der BLLV sprach von einem “Kartenhaus”, das zusammenfalle.
Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus hielt dagegen: Das Schüler-Lehrer-Verhältnis an Grund- und Mittelschulen habe sich in den letzten zehn Jahren sogar verbessert. Bayerns Lehrer seien hervorragend ausgebildet und mit 100 000 staatlichen Lehrkräften seien so viele an den bayerischen Schulen tätig wie noch nie.
Gibt es einen Lehrermangel in Bayern?
Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Aussagen und Wahrnehmungen? Und gibt es ihn denn nun wirklich, den vielzitierten Lehrermangel in Bayern? Der #Faktenfuchs sieht sich dieses Thema in zwei Teilen an: In diesem Artikel geht es darum, anhand von Kennzahlen wie der Klassengröße und dem Verhältnis zwischen Schülerzahlen und Lehrerstellen die jüngsten Entwicklungen einzuordnen. Im zweiten Teil wird die sogenannte Lehrerbedarfsprognose, also der Blick in die Zukunft, thematisiert und mögliche Gegenmaßnahmen vorgestellt.
Wie wird festgestellt, ob es genügend Lehrer gibt?
Bayern berechnet jedes Jahr anhand verschiedener Statistiken den Bedarf an neuen Lehrkräften für die kommenden Jahre und wie dieser Bedarf voraussichtlich gedeckt werden kann. Diese sogenannte Lehrerbedarfsprognose wird vor allem verwendet, um einen potenziellen Lehrermangel in den kommenden Jahren zu erkennen und um reagieren zu können.
Wird über die aktuelle Situation oder die vergangene Entwicklung der Versorgung mit Lehrkräften gesprochen, werden meist zwei Indikatoren aus der Schulstatistik herangezogen: Der bekannteste Indikator ist die Klassengröße, aber auch die Anzahl der Schüler je Lehrer wird oft zitiert. Welcher Indikator für die Versorgung mit Lehrkräften und für die Qualität des Unterrichts aussagekräftiger ist, wird unterschiedlich bewertet.
Werden Klassen in Bayern immer kleiner?
Auf #Faktenfuchs-Anfrage teilte das Kultusministerium mit, dass in den vergangenen zehn Jahren die durchschnittliche Klassengröße an allgemein bildenden Schulen – Grund-, Mittel- und Realschulen und Gymnasien – zunächst verringert und anschließend auf niedrigem Niveau gehalten worden sei.
Die folgende Grafik zeigt diese Entwicklung:
Im Kultusministerium sei man bestrebt, die “guten Relationswerte auch in Zukunft beizubehalten”. Diese positive Bewertung der Entwicklung der Klassengrößen sollte allerdings differenziert betrachtet werden:
Bildungsforscher Klaus Klemm, der an der Universität Duisburg-Essen 30 Jahre lang eine Professor für empirische Bildungsforschung und Bildungsplanung innehatte, macht deutlich: Kleine Klassen haben messbare Auswirkungen auf die Entwicklung kognitiver Kompetenzen und die Lerneffekte der Schüler. Dazu gäbe es vielfache Studienergebnisse. Lehrkräfte hätten mehr Zeit und Ressourcen, sich gezielt um schwächere und auch stärker Schüler zu kümmern. Eine Verringerung der Klassengrößen könne also durchaus ein Zeichen dafür sein, dass ausreichend Lehrkräfte für eine gute Bildungsqualität zur Verfügung stehen. Um die genannten Effekte zu erzielen, müssten die bayerischen Klassen laut Klemm allerdings noch deutlich kleiner werden - er nennt etwa 15 Kinder pro Klasse in den Grundschulen als Beispiel. Dafür, dass eine Verringerung der Klassengröße um ein oder zwei Kinder Effekte auf die Bildungsqualität habe, gebe es keine belastbaren Studienergebnisse.
Der BLLV macht auf #Faktenfuchs-Anfrage keine pauschalen Angaben zu wünschenswerten Klassengrößen. Ausschlaggebend seien die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler in den jeweiligen Klassen, die von vielen Faktoren wie dem sozialem Hintergrund oder etwaigen Inklusionsbedarf abhänge. Welche Personalausstattung es brauche, um die Schüler angemessen zu fördern, könne nur von den Schulen bzw. Schulleitungen vor Ort beurteilt werden.
Für Simone Fleischmann sind die Angaben über die Stabilität der Klassengrößen aus einem weiteren Grund kein Beleg dafür, dass es in Bayern keinen Lehrermangel gibt. Natürlich stimmten die Zahlen, den bayernweiten Durchschnitt zu betrachten bringe jedoch nicht viel, sagt sie. “Wenn wir zum Beispiel in einer Mittelschule auf dem Land Klassen mit 13 Kindern und in der Stadt Klassen mit 29 Kindern haben, dann haben die 13 Kinder natürlich eine wesentlich höhere Bildungsqualität als die 29 Kinder.”
Tatsächlich zeigt sich bei der regionalen Betrachtung, dass die Klassenfrequenz von Landkreis zu Landkreis und von Schulart zu Schulart sehr unterschiedlich aussehen kann. Bei den Grundschulen lag die Spannbreite im Schuljahr 2020/2021 zwischen 19 und 22 Schülern pro Klasse - also keine bedeutende Differenz. Bei den Realschulen sah dies allerdings ganz anders aus. Die folgenden Karten zeigen den Unterschied:
Zu diesen Ergebnissen sagt Bildungsexperte Klaus Klemm: “Ob ein Lehrer vor einer Klasse mit 23 oder 28 Schülerinnen steht, das ist tatsächlich ein großer Unterschied." Anders als bei einer Senkung der Klassengröße um ein bis zwei Schüler, wie sie im bayernweiten Durchschnitt teilweise zu sehen ist, sei bei einem Unterschied von fünf bis sechs Schülern mehr sicher ein negativer Effekt auf die Bildungsqualität zu erwarten.
Warum die Entwicklungen in einzelnen Regionen so verschieden ausfallen, kann laut dem Bildungsexperten viele Gründe haben: Unterschiedliche demografische Entwicklungen in der Bevölkerung, die Einstellungen beim Lehrpersonal in den vergangenen Jahren und das vorhandene Angebot an Schulen könnten eine Rolle spielen.
Legt Bayern zu hohe Grenzwerte bei der Klassengröße an?
Der BLLV hat die Spannbreite der Klassengrößen für verschiedene Schularten in Bayern im Oktober 2021 auch nach Anteilen aufgeschlüsselt. Laut dieser Auswertung haben im Schuljahr 2020/2021 21,6 Prozent aller bayerischen Klassen 26 bis 30 Schüler, 2,5 Prozent haben mehr als 30. In den Realschulen ist der Anteil dieser großen Klassen am größten, er beträgt hier 8,2 Prozent.
Dass es in Bayern überhaupt Klassen mit über 30 Schülern geben kann, könnte ein weiteres Indiz dafür sein, dass die Anzahl der Lehrkräfte nicht immer für kleinere Klassen ausreicht. Realschul- und Gymnasialklassen dürfen im Freistaat laut den Vorgaben für die Klassenbildung bis zu 33 Schülerinnen und Schüler beinhalten, bevor sie geteilt werden. In den meisten anderen Bundesländern liegt diese Grenze zwischen 28 und 30 Schülern pro Klasse. Auch diese hohen Grenzwerte sind immer wieder ein Kritikpunkt von Interessenverbänden wie dem BLLV.
Bildungsforscher Klaus Klemm warnt aber auch davor, nur auf die Klassengröße zu schauen. Wie bereits angesprochen, brächte laut Klemm eine Reduzierung der Klassengröße nur ab einem gewissen Umfang etwas für die Bildungsqualität der Schüler. Doch um diese allein um einen Punkt zu reduzieren, bräuchte es erhebliche Mengen an zusätzlichen Lehrkräften. Klemm ist der Meinung, dass bei gleichbleibender Klassengröße eine andere Maßnahme deutlich mehr Differenzierung und individuelle Förderung bringen würde: “Wenn ich die Wahl hätte, die Klassen zu verkleinern oder mit den Ressourcen, die die Verkleinerung kostet, in der einzelnen Klasse partiell jeweils zwei Lehrkräfte zu haben, würde ich mich immer für die zweite Variante entscheiden.” Also lieber eine Stunde pro Tag mit zwei Lehrkräften, als kleinere Klassen.
In welchem Kontext muss das Lehrer-Schüler-Verhältnis betrachtet werden?
Der zweite Indikator, um die Verfügbarkeit von Lehrkräften zu messen, ist die Anzahl Schüler, die in einem Schuljahr auf die Anzahl der Lehrer kommt. In dieser Statistik wird explizit nicht mit den Lehrkräften als Person gerechnet, sondern mit vollen Lehrerstellen. Diese haben immer den gleichen Beschäftigungsumfang - die jeweils in unterschiedlichen Voll- und Teilzeitmodellen beschäftigten Lehrpersonen werden darauf umgerechnet. Der bayerische Kultusminister Michael Piazolo etwa verwies jüngst auf dieses Verhältnis, um der Kritik des BLLV entgegenzutreten. Die folgende Grafik zeigt hier wieder die Entwicklung nach Schularten aufgeschlüsselt:
Diese Daten lassen zunächst ebenfalls vermuten, dass die Lehrersituation an Bayerns Schulen sich verbessert. Doch wie bei den Klassengrößen sollte auch hier differenziert werden. Abgesehen von der regionalen Verteilung spielt laut Simone Fleischmann vor allem eine große Rolle, wer den Unterricht erteilt. An manchen Schulen in Bayern gibt es laut den Auswertungen des BLLVs nur noch 50 Prozent tatsächlich ausgebildete Lehrer. Die andere Hälfte der Belegschaft machten etwa Schulassistenten, Ein-Fach-Lehrer oder Quereinsteiger aus. Um guten Unterricht anbieten zu können, brauche es aber gut ausgebildete Lehrer. Die gebe es nur, wenn Bezahlung und Arbeitsbedingungen stimmten und davon sei Bayern aktuell weit entfernt, so Simone Fleischmann.
Weiter muss berücksichtigt werden, dass anhand der Lehrerstellen-Schüler-Relation keine Aussage darüber getroffen werden kann, wie die Versorgungslage sich in den verschiedenen Fachbereichen darstellt. In der Veröffentlichung “Bayerns Schulen in Zahlen” schlüsselt das Kultusministerium für das Schuljahr 2019/2020 für Realschulen und Gymnasien auf, wie das Lehrpersonal sich auf die Fächer verteilt. Dabei wird ein Ungleichgewicht deutlich, vor allem im Bezug auf die sogenannten MINT-Fächer. So gab es in beiden Schularten mehr als doppelt so viele Lehrkräfte, die eine Qualifikation für das Fach Englisch hatten, als für die Fächer Physik, Chemie und Biologie.
Eine Auswertung des Bayerischen Philologenverbandes zur Lehrereinstellung an staatlichen Gymnasien in den vergangenen Jahren zeichnet ein ähnliches Bild: Während in Fächern wie Mathematik und Informatik über die Jahre hinweg stets nahezu alle Studienabsolventen sofort eine Einstellung fanden, gab es in Fächern wie Deutsch und Geschichte einen größeren Teil, der sich etwa auf eine Warteliste setzen lassen musste. Beide Datensätze lassen vermuten, dass eine kleinere Lehrer-Schüler-Relation im Durchschnitt nicht zwangsweise eine bessere Unterrichtsqualität in allen Fachbereichen bedeutet.
Fazit
Um über die aktuelle Lage und vergangene Entwicklung der Lehrerversorgung in Bayern zu sprechen, werden meist zwei Indikatoren angeführt: Die Anzahl Schüler pro Klasse und die Anzahl Schüler pro Lehrerstelle. Die Klassengröße ist in allen allgemeinbildenden Schularten bayernweit in den vergangenen Jahren mindestens stabil geblieben, das Lehrerstellen-Schüler-Verhältnis hat sich verbessert. Auf diese Daten beruft sich das bayerische Kultusministerium, wenn es auf Vorwürfe reagiert, in Bayern gäbe es einen Lehrermangel.
Allerdings gibt es zu diesen Zahlen einige relativierende Faktoren, die von Forschern und Interessenvertretern angeführt werden. So ist etwa der bayernweite Durchschnitt der Klassengrößen wenig aussagekräftig, wenn die Werte in den einzelnen Landkreisen weit auseinander gehen - das ist zum Beispiel bei den Realschulen der Fall. Zudem fordert etwa der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband, zusätzlich zur quantitativen Auswertung auch die qualitative Besetzung der Lehrerstellen zu betrachten. Hierbei spielen etwa die Ausbildung und die Verteilung auf die einzelnen Fächer eine Rolle.
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