Darum geht's:
- Die regional unterschiedlichen Wahlergebnisse der bayerischen Landtagswahl veränderten die Hochrechnungen im Laufe des Abends.
- Späte Ergebnisse aus den Münchner Stimmkreisen veränderten zum Beispiel die AfD-Hochrechnungen.
- Dennoch wird die irreführende Spekulation aufgestellt, es habe eine "Ungereimtheit" bei der Wahl gegeben.
Hubert Aiwanger (Freie Wähler) hatte es schon geahnt, als er die erste Prognose zum bayerischen Landtagswahlergebnis 2023 seiner Freien Wähler sah. "Ich gehe davon aus, ein bisschen was geht noch nach oben", sagte er um kurz nach 18 Uhr dem BR.
Tatsächlich überholten die Freien Wähler (FW) von der ersten Prognose (14,0 Prozent) bis zum vorläufigen amtlichen Endergebnis (15,8 Prozent) noch die AfD und die Grünen. Diese Veränderungen im Lauf des Wahlabends sind erklärbar – und zwar laut dem zuständigen Meinungsforschungsinstitut vor allem mit den regionalen Unterschieden im Wahlverhalten. Diese Gründe entkräften eine irreführende Spekulation, die im Internet kursiert. Die Spekulation basiert auf den Veränderungen in den Hochrechnungen im Lauf des Abends.
Irreführende Spekulationen zu den späten Wahl-Hochrechnungen
Am 9. Oktober, einen Tag nach der Wahl, veröffentlichte ein Youtuber ein Video mit mittlerweile 87.000 Aufrufen (Stand: 13. Oktober). Darin bezeichnete er diese Veränderungen als "Ungereimtheit" und kündigte an: "Warum wir hier mal wieder feststellen können, dass hier irgendwas nicht ganz so koscher gelaufen ist."
Konkret werden in dem Video die Hochrechnungen von 00.10 Uhr und 00.53 Uhr kommentiert, die der Bayerische Rundfunk (BR) veröffentlichte. Die Freien Wähler stiegen hier von 15,7 auf 15,9 Prozent. Die AfD fiel von 15,6 auf 14,8 Prozent. "Es kann doch nicht sein, dass jetzt schon wieder eine Wahl war, wo urplötzlich bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen auf einmal ein deutlicher Unterschied erkennbar ist", sagt der Youtuber in seinem Video. Der #Faktenfuchs hat beim Betreiber des Youtube-Kanals nachgefragt, welche konkreten Belege es für "Ungereimtheiten" gebe, aber keine Antwort erhalten.
Außerdem behauptet er in dem Video, dass die Zeitung "Münchner Merkur" in der Zeit zwischen 1 und 2 Uhr nachts nicht über die Wahl berichtet habe. Er macht das an einem Liveticker-Artikel fest. "Was will man uns denn hier, könnte man böswilligerweise sagen, vertuschen?", fragt er. Er unterschlägt dabei, dass andere Medien noch während diesem Zeitraum und in der Nacht auf Montag berichteten: Der BR berichtete zum Beispiel auf seiner Webseite die ganze Nacht durchgängig, wie in diesem Artikel nachzuvollziehen ist.
Die Methodik hinter den Wahl-Hochrechnungen
Die beiden fraglichen Hochrechnungen um 00.10 Uhr und 00.53 Uhr hatte das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap für den BR erstellt. Michael Kunert, Senior Direktor Statistik und Methoden bei Infratest dimap, erklärt dem #Faktenfuchs die zugrundeliegende Methodik: Zuerst arbeite Infratest mit einer eigenen Stichprobe von Stimmbezirken, in denen man Ergebnisse erhoben habe. Im Laufe des Abends sammle man dann offizielle Informationen, zum Beispiel vom Landesamt für Statistik. Daraus rechne man dann die Prozentzahlen der Parteien.
Die AfD erreichte in der ersten Infratest-Prognose 15 Prozent, dann stieg sie zwischenzeitlich bis auf 16 Prozent (Hochrechnung um 22.06 Uhr). Dann fiel sie wieder bis auf die im Video genannten 14,8 Prozent – was nahe am vorläufigen amtlichen Endergebnis von 14,6 Prozent ist.
Münchner Stimmen drückten AfD-Ergebnis am Ende
Diese Auf-und-Ab-Bewegung der AfD ist laut Michael Kunert mit dem regional unterschiedlichen Wahlverhalten der Bayern zu erklären: "Die regionalen Unterschiede sind schon stärker ausgeprägt als in vielen anderen Bundesländern."
Das erschwert die Arbeit der Meinungsforscher. Kunert erklärt das folgendermaßen: Man beobachte die Entwicklungen und nehme zuerst einmal an: Die Veränderung, die beim schon ausgezählten Stimmkreis A vorliegt, wird beim noch nicht ausgezählten Stimmkreis B so ähnlich passieren. "Wir versuchen, generelle Trends und Entwicklungen auf die landesweite Ebene zu übertragen – auf die noch fehlenden Ergebnisse."
In den Münchner Stimmkreisen gewann die AfD aber zum Beispiel deutlich weniger Stimmen hinzu als etwa in Niederbayern. Diese Ergebnisse aus München waren für die Abwärtskurve am Ende verantwortlich – denn sie lagen erst später am Abend vor. "Die Münchner Ergebnisse kamen sehr spät. Die Veränderungen dort waren nicht so, wie im Rest des Landes. Das ist der ganze Effekt", sagt Kunert.
Ergebnisse aus der Landeshauptstadt kamen spät
Der #Faktenfuchs fragte auch beim zuständigen Münchner Kreisverwaltungsreferat (KVR) nach. Die sogenannten Schnellmeldungen der Ergebnisse der jeweiligen Stimmkreise gingen zwischen 23.13 Uhr und 01.24 Uhr an den Landeswahlleiter.
Auf einer Webseite des Landeswahlleiters kann man nachverfolgen, wann die Ergebnisse welches Stimmkreises eingingen. Die Münchner liegen tatsächlich im hinteren Drittel, während die ersten Stimmkreise schon vor 21 Uhr ihre Ergebnisse lieferten.
Das KVR erklärt in einer Mail an den #Faktenfuchs die lange Zeitspanne zwischen der ersten und der letzten Meldung mit den Zuschnitten der Münchner Stimmkreise: "Die Größe der Stimmkreise und die Anzahl der sich darin befindlichen Urnen- und Briefwahlbezirke differiert sehr stark. Sie ist die Hauptursache dafür, dass die jeweiligen Ergebnisse zu unterschiedlichen Zeitpunkten vorliegen."
Viel Briefwahl in München, weniger AfD-Wähler bei Briefwahl
Laut Infratest dimap liegt die spätere Ergebnisübermittlung in München in erster Linie daran, dass die Stimmbezirke in München überdurchschnittlich groß sind und daher viele Stimmzettel gezählt werden müssen. Hinzu kommen die vielen Briefwähler in München. "Es ist so, dass in der Regel die Briefwahlbezirke sehr viel langsamer ausgezählt werden und dass die Ergebnisse später vorliegen als diejenigen aus den Urnenbezirken", sagt Kunert. "Und unter den Münchner Briefwählern hat die AfD gegenüber 2018 sogar Stimmanteile verloren."
Das KVR erklärt ebenso, in den Briefwahlbezirken seien mehr Stimmen auszuzählen. "Zusätzlich sind die Stimmzettel der Landtags- und Bezirkswahl bei der Wahl per Brief jeweils noch einmal in Kuverts versiegelt, deren Öffnung mit Beginn der Auszählung ab 18 Uhr zusätzlich etwas Zeit in Anspruch nimmt", so das KVR weiter.
In ganz Bayern hatten Ende September laut Landesamt für Statistik knapp 38 Prozent der Wahlberechtigten Briefwahl beantragt, einen endgültigen Anteil gibt es noch nicht. In München gaben 54 Prozent ihre Stimme per Brief ab. Die AfD schneide bei Briefwählern tendenziell schlechter ab, sagt Michael Kunert.
Während AfD-Wähler auch während der Corona-Zeit zur Urne gingen, hätte sich das Verhalten der restlichen Wähler in dieser Phase stärker verändert, sagt Kunert. "Meistens ist es so: Die Leute, die einmal Briefwahl gemacht haben, bleiben auch dabei. Und der Schub durch Corona war eben parteipolitisch keineswegs neutral. AfD-Wähler haben eben nicht den Switch zur Briefwahl hin gemacht." AfD-Politiker haben in der Vergangenheit immer wieder dazu aufgerufen, nicht per Brief zu wählen und irreführende und schon oft widerlegte Zweifel an der Sicherheit der Briefwahl geschürt.
Freie Wähler: Erfolge bei Briefwählern unterschätzt
Der stetige Zuwachs der Freien Wähler in den Hochrechnungen ist laut Michael Kunert von Infratest dimap ebenfalls auf die regionalen Unterschiede zurückzuführen. Auch hier zeigte sich bei den Endergebnissen: Es gab deutliche Unterschiede in den Stimmkreisen, die FW waren in Teilen Niederbayerns, Oberbayerns oder der Oberpfalz deutlich stärker als im restlichen Bayern. "Und auch innerhalb der einzelnen Regierungsbezirke waren die Ergebnisse oft sehr, sehr unterschiedlich."
Das mache die Prognosen und Hochrechnungen schwieriger, sagt Kunert. Denn Infratest dimap nimmt Einzelergebnisse und rechnet sie dann auf ganz Bayern hoch. Wenn diese Einzelergebnisse aber sehr unterschiedlich ausfallen, dann kann die landesweite Hochrechnung ungenau ausfallen.
"Das war für uns äußerst schwierig", sagt Kunert zu den Berechnungen. Noch ein zweiter Faktor komme vermutlich hinzu, sagt er: "Die Erfolge der Freien Wähler bei den Briefwählern haben wir wahrscheinlich unterschätzt." Auch hier gilt wieder: Die Ergebnisse der Briefwahlbezirke liegen meist später vor, sodass sie auch erst in die späteren Hochrechnungen einfließen konnten.
Sprünge in den Hochrechnungen gab es schon immer
Stärkere Veränderungen im Laufe eines Wahlabends gab es schon immer, sagt Michael Kunert. "Sowohl ich als auch meine Kollegen sind zum Teil schon seit über 20 Jahren dabei. Wir hatten was sehr Ähnliches 2003. Auch da hatten wir sehr, sehr spät mal einen ganz starken Sprung in den Zahlen."
Damals sahen die ersten Hochrechnungen für die bayerische Landtagswahl die CSU bei über 62 Prozent, die SPD bei 18,5 Prozent. Auch damals veränderten am späten Abend die Ergebnisse aus München die Zahlen nochmal deutlich, sagt Kunert. Im Endergebnis kam die CSU auf 60,7 Prozent, die SPD auf 19,6 Prozent.
Fazit
Die Auf-und-Ab-Bewegungen von Freien Wählern und AfD in den Hochrechnungen lassen sich laut dem Meinungsforschungsinstitut, das sie erstellt hat, mit regionalen Unterschieden erklären. Die FW und die AfD schnitten in den verschiedenen Stimmkreisen Bayerns sehr unterschiedlich ab.
Die spät eingelaufenen Ergebnisse der Münchner Stimmkreise drückten zum Beispiel das AfD-Ergebnis am Ende nach unten. Das Meinungsforschungsinstitut unterschätzte bei seinen Berechnungen wahrscheinlich die Ergebnisse der FW bei den Briefwählern. Briefwahlbezirke dauern beim Auszählen länger, wegen erhöhter Stimmenanzahl und dem Öffnen der Kuverts.
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