Die Schlagzeilen ließen wenig Interpretationsspielraum: “München ist die am stärksten versiegelte Stadt Deutschlands”, schrieb etwa die Süddeutsche Zeitung im September vergangenen Jahres. Drei Jahre zuvor wusste schon die Frankfurter Allgemeine Zeitung: “In keiner anderen deutschen Großstadt findet man so viel Beton, Asphalt und bebaute Fläche wie in München.”
- Dieser Artikel stammt aus 2022. Alle aktuellen #Faktenfuchs-Artikel finden Sie hier.
Warum ist das Thema in der Berichterstattung immer wieder so groß? Weil viel versiegelte Fläche unter anderem eine Reihe von Umweltproblemen mit sich bringt, wie das Bayerische Landesamt für Umwelt (LfU) auf seiner Webseite erklärt:
“So können Flächen, die luftdicht überdeckt wurden, kein Regenwasser mehr aufnehmen oder speichern. Dadurch steigt bei starken Regengüssen das Risiko örtlicher Überschwemmungen. Im Sommer heizen versiegelte Flächen die Luft in den Städten zusätzlich auf. Außerdem geht wertvoller Lebensraum für Tiere und Pflanzen verloren – und zwar oft für immer. Denn einmal versiegelter Boden lässt sich kaum wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückführen.”
Die Münchner Stadtratsfraktion von CSU und Freien Wählern will den “Mythos” von der am stärksten versiegelten Stadt nun widerlegt haben. In einer Pressemitteilung vom 9. Mai 2022 schrieb sie:
“Mit 98 Quadratmeter versiegelte Fläche pro Einwohner steht die Landeshauptstadt im Vergleich zu anderen Städten gut da. Unter den großen deutschen Städten ist lediglich Berlin mit 95 Quadratmeter besser als München, während Leipzig (175 m2), Dortmund (152 m2), Hamburg (148 m2) und Frankfurt (122 m2) deutlich schlechter dastehen.”
Statt auf den hinteren Plätzen auf einmal ganz weit vorne – wie geht das? Der #Faktenfuchs hat nachgefragt.
Keine neuen Daten – sondern ein neuer Kennwert
Um die Neubetrachtung der Flächenversiegelung anzustoßen, brachte CSU-Politiker Hans Hammer einen Antrag in den Stadtrat ein – das Fachreferat für Stadtplanung und Bauordnung der Stadt München antwortete. Das Antwortschreiben fasste aus verschiedenen Quellen Daten zusammen, welche die CSU und Freie Wähler anschließend zitierten. Sie veröffentlichten in der Pressemitteilung also keine neuen Daten, sondern sortierten nach einem anderen Kennwert. Anstatt wie üblich mit dem Anteil der versiegelten Fläche am Stadtgebiet zu arbeiten, gaben sie die versiegelten Quadratmeter pro Einwohner an. In diesem Ranking schneidet das flächenmäßig kleine, aber dicht besiedelte München deutlich besser ab.
Das Planungsreferat unterstützte in seinem Antwortschreiben dieses Vorgehen. Der vollständige Antrag und die Antwort des Planungsreferats können im Ratsinformationssystem der Stadt München nachgelesen werden.
Die Fachstellen und Experten, mit denen der #Faktenfuchs sprach, sind sich jedoch einig: Diese einseitige Betrachtung ist nicht aussagekräftig.
Keine deutschlandweit einheitliche Erhebung
Welche Daten finden sich überhaupt zur Flächenversiegelung in Deutschland? Das Umweltbundesamt gibt eine ernüchternde Antwort: „Eine flächendeckende, detaillierte Erfassung der Bodenversiegelung in Deutschland oder einzelnen Bundesländern gibt es nicht.“
Dennoch gibt es Zahlen:
- Eine mögliche Quelle sind die Daten zur Flächennutzung, die das Statistische Bundesamt zur Verfügung stellt. Sie werden einmal jährlich aus den Liegenschaftskatastern der Länder ermittelt. Unterschieden wird darin etwa nach Siedlungs- und Verkehrsflächen, Flächen der landwirtschaftlichen Nutzung oder Wald. Die Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Bodenschutz (LABO) – ein Arbeitsgremium der Umweltministerkonferenz der Länder – entwickelte ein Rechenmodell, um aus diesen Daten den Versiegelungsgrad auf Ebene der Bundesländer zu ermitteln. Diese sogenannte Umweltökonomische Gesamtrechnung der Länder (UGRdL) bestimmt auf der Basis der vorliegenden Regionaldaten einen durchschnittlichen Versiegelungsgrad innerhalb der verschiedenen Siedlungs- und Verkehrsflächen je Bundesland. Die Methode kann jedoch nur eine ungefähre Abschätzung der Bodenversiegelung abbilden.
- Weitere Quellen sind wissenschaftliche Studien und Untersuchungen – so ließ etwa das Bayerische Landesamt für Umwelt (LfU) den Versiegelungsgrad für die Siedlungs- und Verkehrsflächen aller bayerischen Landkreise und Städte anhand von Satellitendaten aus den Jahren 2000 und 2015 analysieren. 2018 untersuchte die VdS Schadenverhütung – ein Institut für Unternehmenssicherheit, das zum Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) gehört – ebenfalls anhand von Satellitendaten die 50 bevölkerungsreichsten Städte Deutschlands.
- Dann gibt es noch zahlreiche Analysen auf regionaler und lokaler Ebene. So führt das Referat für Klima- und Umweltschutz der Stadt München (RKU) alle vier Jahre eine Auswertung des Versiegelungsgrades anhand von Luftbildaufnahmen durch.
Das Planungsreferat der Stadt München, welches für CSU und Freie Wähler die Daten zusammenstellte, bezog sich bei den Angaben zur Flächenversiegelung auf die in Punkt 2 genannte GDV-Studie aus dem Jahr 2018.
Welcher Kennwert ist wirklich aussagekräftig?
CSU und Freie Wähler verweisen also nicht auf neue Daten. Wie kamen sie dann zu ihrem Ergebnis? Die Pressemitteilung gibt Aufschluss: CSU-Stadtrat Hans Hammer sagt darin, man habe wegen der im Vergleich geringen Grundfläche der Stadt München schon immer vermutet, dass die Versiegelung und die Dichte der Stadtflächen bisher falsch bemessen wurden und die dauernde Kritik an der gewaltigen Versiegelung und der zu hohen Dichte deshalb schlicht falsch sei.
Die Stadtratsfraktion meinte also, einen Messfehler erkannt zu haben. Anstatt nach dem Anteil der versiegelten Fläche an der Stadtfläche zu gehen, solle man stattdessen die Anzahl der versiegelten Quadratmeter pro Kopf betrachten. Dass sich dadurch ein anderes Bild ergibt, ist klar: München hat ein im Vergleich zu anderen deutschen Städten kleines Stadtgebiet, auf dem viele Menschen wohnen.
In den meisten der oben genannten Quellen werden beide Kennwerte (Versiegelungsgrad als Anteil an einer Gesamtfläche und versiegelte Quadratmeter pro Kopf) angegeben. Es gibt allerdings leichte Unterschiede in der Methodik, zum Beispiel, ob die versiegelte Fläche ins Verhältnis zur Gesamtfläche der Stadt gestellt oder nur für die Siedlungs- und Verkehrsflächen betrachtet wird. Aber das Grundprinzip der beiden Indikatoren – Anteil in Prozent und Fläche-pro-Kopf – ist immer gleich.
Die folgende Karte zeigt anhand der Daten aus der LfU-Studie beispielhaft, wie unterschiedlich sich die Lage in den bayerischen Landkreisen darstellt, wenn man den Kennwert wechselt. In dieser Studie wurde die Versiegelung der Siedlungs- und Verkehrsflächen betrachtet.
Die Frage ist also: Ist eine der beiden Rechenmethoden sinnvoller und ist der andere Kennwert damit wirklich „falsch“, wie CSU-Politiker Hans Hammer behauptet?
Das Referat für Klima- und Umweltschutz der Stadt München (RKU) untersucht ebenfalls alle vier Jahre die Flächenversiegelung in der Landeshauptstadt. Sprecherin Gesine Beste erklärt:
Die Versiegelungskartierungen des RKU beobachten den Versiegelungsgrad im Verhältnis zur Fläche, da dies für viele Fragestellungen aussagekräftiger ist.
Zahlen können zu falschen Schlussfolgerungen führen
Möchte man die Entwicklung in Hinsicht auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz betrachten, kann der Pro-Kopf-Indikator laut Gesine Beste das Bild sogar verzerren: Eine ausschließliche Betrachtung des Pro-Kopf-Indikators würde etwa bedeuten, dass bei steigender Bevölkerungszahl und gleichbleibender versiegelter Fläche theoretisch die Versiegelung abnimmt. “Diese Zahl führt somit zu falschen Schlussfolgerungen in Bezug auf die Auswirkungen der Versiegelung auf Stadtklima, Biodiversität, Boden- und Gewässerschutz und damit die Nachhaltige Entwicklung insgesamt.”
Laut Gesine Beste kann die Pro-Kopf-Angabe für manche Zwecke ergänzend sinnvoll sein - die Aussagekraft müsse im Einzelfall geprüft werden.
Weiter ordnet die RKU-Sprecherin ein: „Im Sinne von Städte-Ranglisten ist es korrekt, dass München wegen der geringen Fläche benachteiligt ist. Wenn z.B. der Perlacher Forst zu München gehören würde, hätte das durchaus Einfluss auf den Gesamtversiegelungsgrad.“ Andererseits habe das Vorhandensein einer einzigen großen Grünfläche am Stadtrand keinen Einfluss auf die gebaute Umwelt der Bevölkerung in den allermeisten Teilen des Stadtgebietes.
Es ist laut Beste eben Tatsache, dass München mit Ausnahme des Englischen Gartens keine ausgedehnten Grünflächen aufweist. Die Dringlichkeit des Flächenschutzes sei daher umso höher. Deshalb plädiere ihr Referat für eine differenzierte Betrachtung des Versiegelungsanteils im Verhältnis zur Gesamtfläche und spreche sich gegen eine Vereinfachung oder den Vergleich von Städten auf Basis einer einzigen Maßzahl aus, die der Komplexität des Themas nicht gerecht werden könne.
Vergleichende Betrachtung laut Experte oft nicht zielführend
Auch Michael Thiel vom Institut für Geographie und Geologie an der Universität Würzburg, der an der LfU-Studie beteiligt war, ist gegen die Fixierung auf Städterankings. Selbst wenn anhand von Satellitendaten eine einheitliche Datengrundlage vorhanden sei: Jede Region, jede Stadt habe ihre Eigenheiten, vor denen man die entsprechenden Kennzahlen betrachten müsse. In diese Betrachtung sollten dann auch Faktoren wie die wirtschaftlichen Gegebenheiten oder die Situation auf dem Mietmarkt einfließen.
Die Angabe der versiegelten Fläche pro Einwohner ist laut Michael Thiel nicht per se schlecht. Mit diesem Kennwert lasse sich etwa zeigen, wie effektiv Versiegelung in Städten wie München sein kann – die gleiche Menge an versiegelter Fläche beherberge hier viel mehr Menschen als etwa in ländliche Regionen. “Es macht aber absolut keinen Sinn, andere Indikatoren zu nutzen, um einen besseren Ranking-Platz zu erreichen”, so der Forscher. Jeder müsse verstehen, dass Versiegelung ein allgemeines Problem und die Flächenversiegelung eben schon recht hoch sei.
Auch das Statistische Bundesamt und das Bayerische Landesamt für Umwelt (LfU) geben auf Anfrage des #Faktenfuchs an, dass beide Indikatoren bei der Betrachtung der Flächenversiegelung ihre Berechtigung hätten. Die Pro-Kopf-Angabe würde aber eher dazu dienen, Aussagen darüber zu treffen, wie effizient mit der bereits versiegelten Fläche umgegangen wird.
CSU und Freie Wähler verteidigen ihr Vorgehen
Die Fraktion der CSU und der Freien Wähler im Münchner Stadtrat steht auf Nachfrage des #Faktenfuchs hinter dem von Stadtrat Hans Hammer angestoßenen Vorgang. Ziel der Anfrage beim Planungsreferat sei gewesen, für Entscheidungen im Stadtrat eine möglichst vollständige Datengrundlage zu erhalten. Aus diesem Grund sei unter anderem auch darum gebeten worden, die versiegelte Fläche pro Einwohner zu ermitteln.
Politische Entscheidungen in München würden aufgrund der dort herrschenden Gegebenheiten getroffen –in den Debatten würde aber immer wieder auch die Flächenversiegelung im Vergleich zu anderen Städten thematisiert. “Wenn es dann heißt, München sei führend in Sachen Flächenversiegelung, dies aber aus Sicht des städtischen Fachreferats für Stadtplanung und Bauordnung gar nicht zutreffend ist, muss das auch entsprechend benannt werden”, schreibt die Fraktion dem #Faktenfuchs.
Das Planungsreferat bleibt auf Nachfrage trotz der gegenteiligen Einschätzungen anderer Fachstellen bei seiner ursprünglichen Einschätzung. Darin stimmte es CSU und Freien Wähler zu, dass “dieser direkte Vergleich mit anderen Städten anhand der reinen Gemeindefläche nicht sinnvoll” ist. Weiter heißt es: “Um die Unterschiede, die lediglich aufgrund der administrativen Grenzziehung bestehen, auszugleichen, ist das Maß der versiegelten Fläche pro Einwohner*in in der jeweiligen Kommune zur Darstellung der Flächenversiegelung deutlich aussagekräftiger.“
Fazit
Die Stadtratsfraktion der CSU und der Freien Wähler in München will vermeiden, dass die Stadt im bundesweiten Vergleich als die am stärksten versiegelte rankt. Sie gibt in einer Pressemitteilung an, dass der Versiegelungsgrad der Stadt München bisher falsch bemessen worden sei – München schneide im Vergleich deutlich besser ab als andere Städte. Allerdings zieht die Fraktion ihre Aussage nicht aus neuen Daten – sie gibt stattdessen einen anderen Indikator an: Anstatt nach dem Anteil der versiegelten Fläche ranken sie die Städte nach versiegelten Quadratmetern pro Kopf.
Das Planungsreferat der Stadt München, welches die Daten für die CSU und die Freien Wähler zusammengestellt hat, schreibt, dass ein Vergleich anhand dieses Indikators aussagekräftiger sei.
Andere Fachstellen und Experten allerdings raten von diesem Vorgehen ab: Der Pro-Kopf-Indikator führe zu falschen Schlussfolgerungen, vor allem, wenn es um die Entwicklung der Versiegelung geht. Mit der Pro-Kopf-Angabe lasse sich zwar gut darstellen, wie effizient die bereits versiegelte Fläche genutzt werde – eine alleinige Betrachtung danach sei aber nicht sinnvoll.
Ein Vergleich zwischen verschiedenen Städten ist nach Ansicht der Experten, mit denen der #Faktenfuchs gesprochen hat, generell nur begrenzt empfehlenswert, weil jede Region und jede Stadt unterschiedliche Voraussetzungen aufweist, vor deren Hintergrund die Indikatoren betrachtet werden müssen.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!