Familie Danzer sitzt auf dem Holzboden ihres Wohnzimmers. Zwischen Mama Lena und Papa Tassilo liegt der kleine Pius in einem Wollbettchen. Pius ist gut zwei Monate alt. Er quengelt, hat Hunger. Alles wirkt wie in einer ganz normalen Jungfamilie. Doch die Danzers haben eine dramatische Geschichte erlebt.
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"Eine Traumschwangerschaft"
Rückblick: Seit Monaten hat sich das niederbayerische Paar auf die Geburt seines Sohnes gefreut. "Es war eine Traumschwangerschaft. Alles perfekt. Keine Komplikationen", sagt Lena. Zehn Tage nach dem errechneten Termin wird die Geburt in einem Krankenhaus in der Nähe des Wohnorts eingeleitet. Auch hier scheint zunächst alles normal zu verlaufen. "Als die Ärzte dann hektisch wurden, bin ich auch nervös geworden", erzählt Vater Tassilo, "dann verfällt man in so eine Schockstarre".
Pius hat sich mit der Schulter nicht ganz durch den Geburtskanal gedreht. Auf dem natürlichen Weg geht es nicht mehr vor und nicht zurück. Die Herztöne werden schwächer. Die Ärzte greifen zur Saugglocke. Diese wird auf den Kopf des Kindes aufgesetzt. Mittels Unterdrucks haftet sie am Köpfchen. Während die Mutter presst, ziehen die Ärzte gleichzeitig an der Saugglocke. Das Kind wird zur Welt gebracht. So auch im Fall der Danzers.
Sauerstoffmangel durch Komplikationen
Doch als Pius im Arm seiner Mutter liegt, ist schnell klar, dass etwas nicht stimmt. "Er war ganz weiß, hat nicht geschrien, war eigentlich leblos", beschreibt Lena die ersten Momente nach der Geburt. Pius atmet nicht. Die Ärzte trennen die Nabelschnur ab. Das Neugeborene wird direkt intubiert, also durch Einführung eines Tubus in die Luftröhre künstlich beatmet. An diesem Tag ist Dr. Verena Lehnerer von der KUNO-Klinik St. Hedwig als Kindernotärztin im Einsatz. Sie begleitete Pius nach Regensburg, wo sie selbst Oberärztin auf der Kinderintensivstation ist.
In Regensburg angekommen, wird Pius direkt auf die Intensivstation gebracht. Die klinischen Untersuchungen und die Blutwerte deuten klar auf eine Sauerstoffunterversorgung hin. Eine sogenannte Asphyxie. In diesen Fällen erleiden die Neugeborenen Schädigungen des Gehirns und anderer Organe. Dr. Lehnerer und ihre Kollegen haben entschieden, Pius' Körpertemperatur auf 33,5 Grad herunterzukühlen.
Kältetherapie als einzige Option
Diese sogenannte therapeutische Hypothermie wird schon seit 15 Jahren angewendet - mit Erfolg. Sie ist allerdings auch die einzige Therapiemöglichkeit. Pius wird in einen mit Plexiglaswänden versehenen Kasten gelegt. Hier finden sich - recht unscheinbar - zwei kleine blaue Kühlmatten. Eine daran angeschlossene Maschine senkt über Stunden die Temperatur und hält sie dann für drei Tage konstant.
Pius' Körper wird dadurch in eine Art Energiesparmodus versetzt. Ähnlich wie beim Winterschlaf mancher Tiere aktiviert die Kälte in seinem Körper eine Art Schutzprogramm. Der Stoffwechsel wird heruntergefahren, die Hirnaktivität verringert. Das Ziel: Weitere Schädigungen sollen vermieden werden, das Gehirn bekommt die Chance zur Regeneration. Das ist möglich, weil das Organ zehn- bis zwanzigmal mehr Nervenzellen produziert, als es überhaupt benötigt.
Nervenzellen fehlt Energie – sie gehen kaputt
Bei auftretendem Sauerstoffmangel fehlt den Nervenzellen Energie. Nach etwa sechs Stunden kommt es zu einer zweiten Phase, in der Entzündungsvorgänge auftreten. Die Nervenzellen gehen kaputt. Daher muss die Kühlung so schnell wie möglich, aber in jedem Fall innerhalb dieser sechs Stunden erfolgen. Die Kältetherapie hat auch Nachteile: Die Kinder müssen direkt nach der Geburt für einige Tage von der Mutter getrennt werden. Außerdem löst die Kälte Schmerzen aus, weshalb die Neugeborenen während der Kühlung mit Morphin sediert werden.
Positive Zeichen, aber quälende Ungewissheit
Einige Stunden nach der Einlieferung in Regensburg können auch Lena und Tassilo endlich wieder zu ihrem Sohn. "Du siehst ihn dann wieder, mit Schläuchen und medizinischen Apparaten, und du erkennst eigentlich dein Kind gar nicht wieder", sagt Tassilo, "und dann noch die Ungewissheit über die Tage, wenn man nicht weiß, wie es wird, hat er Schäden davongetragen". Während der Kühlung untersuchen die Mediziner um Dr. Lehnerer Pius zwar täglich. Die entscheidende Untersuchung kann aber erst circa fünf Tage nach der Geburt erfolgen: die Magnetresonanztomografie (MRT) des Kopfes.
Die zahlreichen Schnittbilder von Pius' Gehirn beenden die quälende Ungewissheit der Danzers: Sie zeigen keine Auffälligkeiten, das Gehirn hat sich regeneriert und keine weiteren Schäden davongetragen. Die Erleichterung bei den Danzers ist riesig. Pius hat gute Voraussetzungen, um sich ganz normal zu entwickeln. So geht es in etwa 50 Prozent aller Fälle bei gekühlten Kindern. Die andere Hälfte muss mit Beeinträchtigungen leben - auch schwere Behinderungen gehören dazu.
Diagnose und Prognose nicht präzise
So gut die Kühlungstherapie wirkt: Bisher ist es für die Ärzte schwierig zu entscheiden, welche Kinder damit behandelt werden sollten und welche nicht. Denn die Möglichkeiten, die Schwere des Gehirnschadens bei der Geburt festzustellen, sind begrenzt. Und danach richtet sich die Entscheidung. Das haben die KUNO-Mediziner um Dr. Lehnerer und ihren Chef Professor Sven Wellmann zum Anlass genommen, eine Studie umzusetzen.
Zerstörte Nervenzellen als Biomarker
Wenn die Nervenzellen kaputtgehen, zersetzen sie sich. Teile wie ihr Baugerüst fließen ins Hirnwasser ab und gelangen anschließend ins Blut. Das Protein Neurofilament gehört zu diesem Baugerüst. Mithilfe des Unispitals in Basel lassen Wellmann und Co. die Konzentration dieses Proteins in Blutproben von betroffenen Kindern messen - zu unterschiedlichen Zeitpunkten.
Und das aus zwei Gründen, wie der Leiter der Neonatologie der KUNO-Klinik beschreibt: "Zum einen, um die Diagnostik zu verbessern. Wir wollen präziser sein, dass wir die richtigen Kinder der Kühlung zuführen. Und zum anderen wollen wir auch ein besseres Verständnis bekommen, was dann später mit den Kindern wird, wie sie sich entwickeln werden."
Ergebnisse im Januar
Die Ergebnisse werden im Januar erwartet. Pius Danzer ist Teil der Studie. Seine Eltern haben das bewusst und schnell entschieden. "Einfach, um zu unterstützen, das Thema in der Öffentlichkeit ein bisschen publiker zu machen", sagt Vater Tassilo, "einfach, um anderen Leuten Hoffnung zu machen in so einer Situation."
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