Zwischen Timos Zelle und dem Studierzimmer liegen nur wenige Meter. Die Struktur im Gefängnis ist klar vorgegeben – die Disziplin müssen die studierenden Häftlinge selbst mitbringen. Denn ein Gefängnis ist kein guter Ort zum Lernen. "Gerade abends und nachts ist es schwierig, wenn wir in unseren verschlossenen Zellen sitzen und irgendwo andere Gefangene laut sind. Wir haben ja keinen anderen Rückzugsort, sondern müssen das aushalten."
Zwischen Haftraum und Studierzimmer hinter Gittern
Im Gefängnis beginnt der Tag in der Regel um sechs Uhr. So auch für den 26-Jährigen Timo in der JVA Würzburg. Seine Zelle, acht Quadratmeter mit Bett, Tisch und Schrank, befindet sich auf dem Studentengang. Hier darf er sich frei bewegen. "Als Student kann ich mir meine Zeit relativ frei einteilen. Entweder ich bleibe zum Lernen im Haftraum oder gehe ins Studierzimmer, wo auch die Rechner-Arbeitsplätze sind", erzählt er. Manchmal nennt Timo den Raum auch Hörsaal. Mehr zum Spaß. Denn eigentlich ist das Studierzimmer einfach ein Raum mit sechs Tischen und genauso vielen Computern. An den Wänden stehen ein paar Regale mit Büchern. Durch die vergitterten Fenster blickt er in den Innenhof der Würzburger JVA.
Studieren in Haft ist bayernweit nur in Würzburg möglich
Die meiste Zeit nutzt der 26-Jährige zum Lernen. Im März stehen wieder Prüfungen an. Der Druck ist groß: Er ist nur einer von fünf Inhaftierten in Bayern, die studieren. Möglich ist das nur hier in Würzburg. Warum nicht mehr diese Möglichkeit wahrnehmen? Jährlich bewerben sich laut einem Sprecher des Bayerischen Justizministeriums schließlich zwischen drei und zehn Häftlinge aus ganz Bayern. Auf BR-Anfrage heißt es aus München:
"Die Mehrzahl der Gefangenen verfügt nicht über die erforderliche schulische oder berufliche Qualifikation für ein Studium." Sprecher Bayrisches Justizministerium
Bei anderen sei der Zeitraum bis zur voraussichtlichen Entlassung aus der Haft zu kurz. Außerdem seien teils interessierte und geeignete Gefangene nicht zu einer Verlegung in die JVA Würzburg bereit, weil ihnen etwa Lockerungen oder eine Verlegung in den offenen Vollzug in der bisherigen Anstalt in Aussicht gestellt wurden. Wer studieren darf und wer nicht, entscheidet letztlich der Bayerische Strafvollzug, nicht der interessierte, studierfähige Häftling selbst.
26-Jähriger: Schneller als in Regelstudienzeit
Timo hatte Glück. Das Studium sieht er als Versicherung für sein Leben zurück in Freiheit. Im Oktober wird er entlassen. Dann will er mit dem Bachelor in Wirtschaftswissenschaften fertig sein – nach nur vier Semestern. Zu studieren schafft trotz Haftalltag ein Stück Normalität, findet er:
"Das typische Studentenleben haben wir hier nicht. Es ist Haftalltag und wir studieren zusätzlich – da vergeht die Zeit ein bisschen schneller. Aber es ist auch Arbeit." Timo, Häftling und Student
Arbeit und Weiterbildung ist für Inhaftierte gesetzlich vorgegeben
Und so sieht es auch der Gesetzgeber: Denn laut Strafvollzugsgesetz des Bundes ist jeder Häftling zur Arbeit verpflichtet. Das soll bei der sogenannten Resozialisierung helfen, bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Dazu zählen auch Fort-, Aus- oder Weiterbildungen während der Haftstrafe. In der Umsetzung sei das allerdings noch ausbaufähig, findet Arnd Bartel, der als Pädagoge in der JVA Würzburg die Studierenden betreut und berät: Er würde sich wünschen, dass Urteile Perspektiven enthalten: "Ein Plan müsste geschmiedet werden. In dem Sinne: Wo kann sich der Verurteile noch weiterbilden? Und wenn er das erreicht hat, wird er entlassen."
Bildung verringert das Risiko, rückfällig zu werden
Denn Studien bestätigen: Straftäter, die sich in Haft fortbilden, finden schneller eine Arbeit. Kurz: werden seltener rückfällig. Für Bartel ist ganz klar: Die Möglichkeit, den Knast mit einem höheren Abschluss, mit mehr Wissen zu verlassen, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Rein technisch ist das aber oft gar nicht so einfach. Etwa wenn Timo eine Frage an eine Dozentin hat: Er kann nur per Mail kommunizieren – "die wundern sich manchmal und bitten darum, ins Forum zu schreiben. Das ist aber für uns in Haft nicht freigeschaltet."
Einige Tools der Fernuni Hagen sind in Haft nicht zugelassen
Für Studierende in Freiheit ist es völlig normal, frei auf digitale Vorlesungen, Video-Konferenzen, Foren- und Chaträume zugreifen und diese nutzen zu können. Im Knast läuft das anders, sagt Volker Zersch, Studienberater für Häftlinge an der Fernuni Hagen: "Einige dieser Formate werden als zu unsicher im Strafvollzug angesehen. Das ist immer noch ein großer Eiertanz."
Lernplattform für ganz Deutschland - Bayern fast Schlusslicht
112 Haftanstalten in Deutschland nutzen deshalb mittlerweile die Lern- und Informationsplattform elis, E-Learning im Strafvollzug. Das System ermöglicht es, gesicherte Bereiche des Internets zu nutzen. Bayerns Justizministerium hat sich elis erst Anfang des Jahres angeschlossen. Im Bundesvergleich ist der Freistaat damit fast Schlusslicht. Das Bayerische Justizministerium schreibt dazu auf BR-Anfrage: "Nach abschließenden Tests kann die elis-Lernplattform im Rahmen des Fernstudiums ab dem Sommersemester 2022 genutzt werden. Daneben wird der Einsatz [von elis] im Bereich der schulischen und beruflichen Aus- und Weiterbildung der Gefangenen aktuell in weiteren bayerischen Justizvollzugsanstalten erprobt." Zwischen 2011 und 2021 seien im bayerischen Justizvollzug mehr als 49 Millionen Euro in neue Betriebe, Sanierungs-Maßnahmen und die Ausstattung von Lehrräumen mit modernen Maschinen investiert worden.
Prüfungsunterlagen werden per Post versendet
Trotzdem: Vieles im Studium der Inhaftierten läuft nach wie vor analog, weiß Volker Zersch: "Unser Prüfungsamt schickt die Prüfungsunterlagen per Postkutsche quasi ins Gefängnis. Die Aufsichtsperson vor Ort, Herr Bartel etwa, überwacht dann den Häftling während der Klausur. So werden trotzdem alle Studierenden dieses Studiengangs unter den gleichen Bedingungen am selben Tag geprüft."
Timo hat seine sechs Jahre Haftstrafe genutzt
Timo sieht das alles gelassen. Er ist froh, überhaupt studieren zu können. Und damit die Zeit in Haft zu nutzen: "Ich möchte gut genug ausgebildet sein, um nach der Haft selbstständig und selbstbestimmt Fuß fassen zu können." Wenn Timo im Oktober entlassen wird, hat er sechs Jahre hinter Gittern verbracht – eine Ausbildung und ein Studium absolviert.
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