Der ICE nach der Messerattacke
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ICE nach Messerattacke im November 2021

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ICE-Messerangriff: Wie krank ist der mutmaßliche Islamist?

Knapp ein Jahr nach der blutigen Messerattacke auf Reisende in einem ICE steht im Oberlandesgericht München die juristische Aufarbeitung an. Dabei dürfte vor allem die Frage nach der psychischen Gesundheit des Angeklagten eine große Rolle spielen.

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Am Morgen des 6. November 2021 soll der inzwischen 28-jährige Angeklagte im ICE von Passau nach Nürnberg scheinbar wahllos auf Fahrgäste eingestochen haben. Vier Menschen seien mit dem Messer verletzt worden – teilweise schwer, heißt es von der Bundesanwaltschaft. Laut Anklage hat sich der Mann etwa einem sitzenden Fahrgast von hinten genähert und ihm das Messer achtmal in den Kopf-, Hals- und Brustbereich gestoßen.

Nach der Tat hatte der ICE einen außerplanmäßigen Zwischenstopp im Landkreis Neumarkt in der Oberpfalz gemacht. Polizisten durchsuchten den Zug bei Seubersdorf und nahmen den mutmaßlichen Täter fest. Der Angeklagte, laut Ermittlern ein "palästinensischer Volkszugehöriger", lebt seit 2014 in Deutschland und ist in Syrien aufgewachsen. Zuletzt wohnte er in Passau.

Verteidigung geht von psychischer Erkrankung aus

Die Bundesanwaltschaft erhob Anklage gegen den Messerangreifer und legte ihm unter anderem versuchten Mord und gefährliche Körperverletzung zur Last. Das Gericht muss jetzt die Frage klären: War es die Tat eines psychisch Kranken oder eines radikalen Islamisten? Denn unmittelbar nach dem Vorfall hatte sich der Angeklagte als psychisch krank bezeichnet und wurde zunächst in das Bezirksklinikum Regensburg eingewiesen. Im Gegensatz zu den Ermittlern, die inzwischen eine islamistische Motivation vermuten, geht sein Verteidiger Maximilian Bär weiterhin von einer psychischen Störung aus.

"Der psychische Zustand zum Zeitpunkt der Taten wird Dreh- und Angelpunkt des Prozesses sein", sagt Anwalt Bär dem Bayerischen Rundfunk auf Anfrage. "Selbst seit dem Zeitpunkt, als mein Mandant in die Justizvollzugsanstalt verlegt wurde, ist er nahezu durchgängig in der psychiatrischen Abteilung untergebracht."

Ermittler finden dschihadistisches Propagandamaterial

Ganz anders klingt die Version der Bundesanwaltschaft. Sie zweifelt an einer Erkrankung und beruft sich auf eine "eingehende" psychiatrische Untersuchung des Angeklagten. Auch begründet die Anklagevertretung ihre Einschätzung mit Videos, die auf Geräten des Angeklagten sichergestellt wurden: Beim 28-Jährigen habe man unter anderem dschihadistische Text-und Videodateien gefunden, die auch Anschläge gegen Nicht-Muslime verherrlichten.

Angeklagter soll verfassungsschutzbekannte Moschee besucht haben

Nach BR-Informationen gibt es außerdem Zeugen, die behaupten, dass der Angeklagte regelmäßig eine verfassungschutzbekannte Moschee in seinem Wohnort Passau besucht hat. Die dortige Al-Rahman-Moschee diene "als Plattform für salafistische Vortragsveranstaltungen sowie als Treff- und Kontaktpunkt für Personen mit Bezügen zum Salafismus", sagt Florian Volm, Sprecher des Bayerischen Verfassungsschutzes.

Die Moschee spricht auf Anfrage von Verleumdung. Man sei nicht salafistisch, folge also keiner extremistischen Ideologie innerhalb des Islamismus. Und: "Wir verfolgen keine politischen Ziele", teilt die Moschee mit. Auch der Angeklagte habe sich nie in den Gebetsräumen aufgehalten: "Wir kennen diesen Herrn überhaupt nicht. Verfassungsschutz und die Kriminalpolizei haben uns schon kontaktiert." Man werde alle anzeigen, die "nicht die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten und respektieren".

Anwalt: Keine Hinweise auf Verbindungen zu Terrornetzwerk

Verteidiger Maximilian Bär findet die Anhaltspunkte der Bundesanwaltschaft nicht überzeugend. "Es gibt keine Hinweise, dass mein Mandant in ein Terrornetzwerk eingebunden war", so der Anwalt. Er rechnet auch aufgrund der mutmaßlichen psychischen Erkrankung mit einer aufwendigen Beweisaufnahme. So dürften im Münchner Prozess Gutachten der psychiatrischen Sachverständigen viel Raum einnehmen.

Psychisch Kranke anfälliger für Radikalisierung?

Experten jedenfalls sind davon überzeugt, dass sich eine Radikalisierung und eine psychische Störung nicht gegenseitig ausschließen müssen.

Der Psychologe Ahmad Mansour etwa betreut seit Jahren Radikalisierte in deutschen Gefängnissen. Auch im Auftrag der Staatsregierung bietet er Workshops in Bayern an, damit Häftlinge mit salafistisch-dschihadistischem Hintergrund ihren Radikalisierungsweg reflektieren und aussteigen. Immer wieder stellt Mansour fest, dass solche Häftlinge mit psychischen Problemen kämpfen. "Es gibt auch Forschungen aus Israel, die zeigen, dass bei der Anwerbung von Selbstmordattentätern genau diese Gruppe angesprochen wird. Das ist die Gruppe, die am meisten zu manipulieren ist", so Mansour.

Verfassungsschutz: Islamisten zunehmend psychisch auffällig

Laut Bayerischem Verfassungsschutz ist in den letzten Jahren eine "Zunahme psychischer Probleme bei auffällig gewordenen einzelagierenden Personen feststellbar". Oft sei es schwierig herausfinden, "ob es sich um einen islamistischen Terroranschlag oder um Taten psychisch erkrankter Personen handelt", so die Verfassungsschützer.

Beim angeklagten mutmaßlichen ICE-Messerstecher wurde kurz nach der Festnahme eine paranoide Schizophrenie vermutet. Der Prozess in München muss klären, ob die Vermutung stimmt.

Der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts hat zunächst 24 Verhandlungstage bis zum 23. Dezember angesetzt.

ICE am Bahnhof Seubersdorf in der Oberpfalz.
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ICE nach Messerattacke im November 2021

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