Das Ehepaar Peter und Erika S. aus dem Landkreis München: Beide sind in der höchsten Priorisierungsgruppe für die Corona-Schutzimpfung. Er ist 81 und wurde bereits einmal geimpft, seine 80-jährige Ehefrau wartet seit Wochen. Beide haben sich über die Software BayIMCO des Freistaats Bayern für einen Impftermin registriert.
Doch nach welchen Kriterien die Termine genau vergeben werden, ist ihnen nicht klar. "Ich habe einige Freundinnen, die jünger sind als ich und die bereits geimpft wurden", wundert sich Erika S.. BR-Recherchen zeigen jetzt: der Algorithmus bei der automatisierten Terminvergabe könnte zu einer Benachteiligung der über 80-Jährigen führen.
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Hinweise auf systematische Benachteiligung
BayIMCO entscheidet mit einem Algorithmus, wer einen Termin für die begehrte und im Zweifel lebensrettende Corona-Impfung bekommt - und wer noch länger warten muss. Um genauer zu verstehen, wie der Algorithmus funktioniert, konnten BR-Journalistinnen mit dem Einverständnis des Ehepaars S. aus dem Landkreis München im örtlichen Impfzentrum Oberhaching deren Datenbankeinträge einsehen.
Daraus geht hervor: Jedem Impfwilligen in Bayern wird im Hintergrund automatisiert ein Scorewert zugeordnet. Je höher der Wert, desto schneller bekommt man einen Termin. Im Fall des Ehepaars liegen die Werte entsprechend dem Alter bei 81 beziehungsweise 80 Punkten.
Doch das Alter ist nicht das einzige Kriterium. Jüngere Menschen, die aus beruflichen Gründen ebenfalls in der höchsten Priorisierungsgruppe sind, etwa Pflegende, bekommen nach BR-Informationen offenbar einen Zufallswert zwischen 80 und 100 Punkten zugelost.
Das könnte dazu führen, dass Menschen, die 80 Jahre oder nur wenig älter sind, vom Algorithmus systematisch benachteiligt werden, da Menschen mit beruflicher Indikation offenbar in den meisten Fällen ein höherer Wert als 80 zugelost wird. Wie genau das Computerprogramm funktioniert, ist allerdings geheim - aus Sicherheitsgründen, heißt es aus dem bayerischen Gesundheitsministerium.
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Beschwerden von Senioren in den Impfzentren
Bei den Impfzentren sorgt diese Intransparenz für Probleme, zum Beispiel im Landkreis Starnberg. Hier wurden mehr als 4.000 über 80-Jährige noch nicht geimpft. Immer wieder melden sich Senioren bei Landrat Stefan Frey (CSU), die trotz Anmeldung seit Wochen auf einen Termin warten - während Jüngere bereits geimpft wurden.
"Man kommt in Erklärungsschwierigkeiten, wenn man den Algorithmus nicht genau kennt und wenn er dann nicht 100-prozentig so funktioniert, wie er funktionieren sollte", so Stefan Frey im BR-Interview. Nicht nur in Starnberg müssen 80-Jährige mitunter unerklärlich lange warten, wie mehrere Landräte und Impfzentren bestätigen.
Einige Impfzentren sind inzwischen dazu übergegangen, die Nutzung von BayIMCO teilweise auszusetzen und Impftermine gezielt telefonisch zu vergeben.
Gesundheitsministerium bestreitet Benachteiligung
Die Verwendung von BayIMCO ist für die Impfzentren eigentlich verpflichtend vorgeschrieben. Das bayerische Gesundheitsministerium schließt auf Anfrage eine Ungleichbehandlung aus, bestätigt aber, dass ein "virtuelles Alter" sowie ein statistischer Korrekturfaktor eingesetzt werden. So solle sichergestellt werden, dass Menschen mit beruflicher Indikation gleichmäßig innerhalb der Prioritätsgruppen verteilt werden. Eine Benachteiligung könne definitiv ausgeschlossen werden, da "beispielsweise auch genau 80 Jahre als mögliches virtuelles Alter abgebildet" werde.
In der BR-Sendung "jetzt red i" am Mittwoch versprach Gesundheitsminister Klaus Holetschek aber: "Wo Fehler sind, werden sie behoben und wird nachjustiert. Aber ich glaube, insgesamt ist das System schon gerecht und arbeitet auf gutem Niveau."
Doch in der Praxis häufen sich die Hinweise auf eine Benachteiligung. Zum Beispiel im Landkreis Regen. Der ärztliche Leiter des Impfzentrums, Stefan Brücklmayer, hat beim Durchforsten der BayIMCO-Datenbank mehrere hundert Über-80-Jährige entdeckt, die auf einen Impftermin warten: "80-Jährige, die schon fünf, sechs oder acht Wochen angemeldet sind, werden nicht eingeladen. Aber die 30-jährige Nachbarin, weil sie einer bestimmten Berufsgruppe angehört, wird fünf Tage nach ihrer Anmeldung zum Impftermin eingeladen."
Am vergangenen Sonntag gab es einen extra Impftermin für die "vergessenen" 80-Jährigen. Auf den Algorithmus vertraut man in Regen nicht mehr. Man wird aber weiter damit arbeiten müssen.
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Offenbar keine externe Überprüfung des Algorithmus
Doch Vertrauen sei wichtig, wenn ein Computerprogramm Entscheidungen mit derart weitreichenden Folgen trifft, meint Katharina Zweig, die an der TU Kaiserslautern zu Ethik und Algorithmen forscht. Sie hat Verständnis dafür, dass manche Algorithmen aus Sicherheitsgründen nicht vollständig veröffentlicht werden. Aber: "Es spricht eigentlich nichts dagegen, sie einer Gruppe von unabhängigen Experten oder Expertinnen vorzulegen." Diese könnten dann überprüfen, ob das System gemäß den Vorgaben arbeitet.
Ob es in Bayern externe Überprüfungen gab, lässt das Gesundheitsministerium auf eine entsprechende BR-Anfrage hin offen. Die Qualität des Algorithmus werde fortlaufend evaluiert. "Sogenannte Fairnessmaße gewährleisten zusätzlich eine diskriminierungsfreie Ausgestaltung der Prozesse", erklärt ein Ministeriumssprecher.
Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, sagte im BR-Interview, die Stiko bekomme aus den Ländern keine Rückmeldung über die konkrete Umsetzung ihrer Empfehlungen. Er erhalte jedoch immer wieder E-Mails von Bürgern über 80 Jahren, die lange auf einen Impftermin warten. "Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass wirklich die Menschen, die eben das höchste Risiko haben, schwer zu erkranken, möglichst vollständig geschützt werden, gerade jetzt am Anfang einer dritten Welle."
Erika S. ist inzwischen selbst aktiv geworden und hat beim Impfzentrum angerufen. Jetzt hat sie einen Termin - schon am nächsten Wochenende. Im Impfzentrum heißt es, sie wäre jetzt ohnehin an der Reihe gewesen.
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