Foto aus einem Handyvideo: Jugendliche prügeln sich in der Messestadt Riem in München / Quelle: "Jeffrey"
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Was kriminelle Jugendbanden in Bayern antreibt

Sie prügeln, greifen mit Messern an oder verkaufen Drogen: Gewaltbereite Jugendgruppen sind in Bayerns Großstädten ein Problem. Was die Jugendlichen antreibt, woher sie kommen - und was Ermittlern wirklich Sorgen macht.

Über dieses Thema berichtet: Mittags in Schwaben am .

Auf dem Motorrad sitzen zwei Personen. Eine hebt den Arm und feuert mit einer Waffe in die Luft. Die Schüsse hallen durch die Nacht, zu sehen auf einem Video, das dem BR-Politmagazin "Kontrovers" vorliegt. Auf einem anderen Video gehen zwei Jugendbanden aufeinander los. Immer wieder treten Jugendliche mit Füßen aufeinander ein. Szenen aus der Messestadt Riem in München, einem Brennpunkt für Jugendgewalt.

Auch in Nürnberg, Augsburg und Germering hat das Bayerische Landeskriminalamt (LKA) gewaltbereite Jugendgruppen im Fokus. In München zählten die Ermittler 32 Mitglieder, in Nürnberg 14, in Augsburg 25 und in Germering 20 Mitglieder - ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Der Gruppe in Augsburg werden zum Beispiel mehr als 100 Mitglieder zugerechnet. Was alle Banden laut LKA gemeinsam haben: Sie definieren sich über ihr Stadtviertel. Es gibt Anführer sowie Mitläufer, die gehorchen müssen. Die Banden haben eigene Namen und eine genaue Vorstellung davon, wie die Dinge in ihrem Viertel zu laufen haben. Sie sehen sich als "Brüder". Wer mit der Polizei kooperiert, gilt als Verräter - und muss mit Gewalt rechnen. So berichtet es ein verurteilter Dealer dem BR.

Jeder Dritte ist ein Intensivtäter

Aber vor allem: Die Jugendlichen verstoßen gemeinsam gegen das Gesetz. Die meisten starten ihre kriminelle Laufbahn im Alter zwischen 11 und 14 Jahren. Viele werden schwer kriminell. Unter den Banden-Mitgliedern, die das LKA unter die Lupe genommen hat, ist etwa jeder Dritte ein Intensivtäter. Das sind Jugendliche, die in einem halben Jahr mindestens fünf Straftaten begangen haben.

Und noch etwas zeigen die Zahlen: Die Zugehörigkeit zu einer Bande beschleunigt die kriminelle Karriere immens, auch im Vergleich zu jugendlichen Straftätern, die keiner Bande angehören. Viele werden erst in der Bande straffällig und reihen dann Delikt um Delikt aneinander (siehe Grafik unten). Vor allem wenn es um typische Banden-Verbrechen wie Raub, Diebstahl, Erpressung oder gefährliche Körperverletzung geht.

Im Audio: Kriminelle Jugendbanden - so ist die Lage

Eiin junger Mann in Haft, Bild von hinten
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Jugendgefängnis

"Krank, wie sich das mit den Messern entwickelt hat"

"Es wird immer brutaler", sagt Peter William Meyer, der als sogenannter "Prison Coach" mit jugendlichen Straftätern arbeitet. "Wenn es eine Schlägerei gibt, finden die gar kein Ende mehr. Wenn der Gegner am Boden liegt, wird ja immer noch weiter zugetreten." Und noch etwas bereitet Ermittlern und Sozialarbeitern Sorgen: die Messer in den Hosentaschen der Jugendlichen. Im März 2022 eskaliert in München ein Streit zwischen mehreren Jugendlichen. Dabei stirbt ein 18-Jähriger durch einen Messerstich. In Neuperlach wird vor einem Monat ein Jugendlicher durch eine Machete schwer verletzt.

"Ich habe in der Haft so viele kennengelernt, die wegen Messerstechereien sitzen", sagt ein 20-Jähriger dem BR. Er hat in Augsburg mit anderen Jugendlichen der "54er"-Gruppe ein weitreichendes Drogengeschäft aufgezogen, wofür er zu knapp vier Jahren Haft verurteilt wurde. "Das ist echt krank, wie sich das mit den Messern entwickelt hat in Großstädten wie München oder Augsburg." Der Aufsehen erregendste Fall in Augsburg: Eine Messerstecherei im Reese-Park. Es ging um Falschgeld.

In der Bande erfahren Jugendliche erstmals Zuneigung

Also alles ganz furchtbar? Der Leitende Kriminaldirektor des Polizeipräsidiums Schwaben Nord, Mario Huber, hat an den Untersuchungen des LKA mitgewirkt. Auch ihn besorgen die Messer. Zudem stört ihn das respektlose Verhalten gegenüber Polizistinnen und Polizisten. Auch er setzt auf ein striktes Vorgehen gegen Jugendgruppen, sobald sie die öffentliche Ruhe stören.

Dem Eindruck, wonach sich Teile der bayerischen Großstädte in rechtsfreie Räume verwandeln, tritt er jedoch entschieden entgegen. In Augsburg etwa habe man die Lage im Griff. "Man kann sich jederzeit bedenkenlos in der Öffentlichkeit bewegen - auch wenn Jugendgruppen zugegen sind", sagt Huber. Banden-Probleme habe es auch schon früher gegeben, betont das LKA. Auch ob sich die Zahl der Jugendbanden in Bayern nach oben oder unten entwickelt, lässt sich aus der LKA-Studie nicht herauslesen, da sie nur den Zustand zwischen 2015 und Mitte 2022 beobachtet und daher als Momentaufnahme für diesen Zeitraum zu werten ist. Auf Anfrage des BR teilte das LKA mit, auch keine aktuellen Zahlen mehr erhoben zu haben.

"Viele der Jugendlichen kommen aus zerrütteten Elternhäusern", erklärt Kriminaldirektor Huber. Sehr oft sind die Väter abwesend, Wohnraum und Einkommen der Eltern arg begrenzt. Keiner der beobachteten Jugendlichen besucht ein Gymnasium. "Teils erleben sie in der Gruppe das erste Mal Zuneigung, Respekt oder Verlässlichkeit. Deshalb wollen viele ihren Status in dieser Gruppe halten oder ausbauen - und zwar unter allen Umständen", so Huber weiter.

Wie ein Mann zu sein hat

Ein Mittel um den Status zu festigen: Loyales Verhalten, gerade gegenüber Älteren. Und auf starken Mann machen: entweder indem man Geld durch Straftaten verdient oder indem man durch körperliche Gewalt Stärke demonstriert. "Gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen" nennt das Johann Endres vom Kriminologischen Dienst des bayerischen Justizvollzugs.

Dieses Bild von Männlichkeit finde man stärker bei Jugendlichen, deren familiäre Wurzeln im Nahen Osten, in Nordafrika oder in Osteuropa liegen, so Endres. Es sei aber auch in "einheimischen Unterschichtsmilieus stärker ausgeprägt als in der deutschen Mittelklassekultur". Definiert werde diese Männlichkeit oft durch Stolz, Ehre und Respekt. Wird die eigene Mutter beleidigt, ist eine Schlägerei vorprogrammiert. Ob es dabei wirklich um Ehre geht, oder doch nur um einen willkommenen Anlass für Gewalt, bleibt freilich offen.

Woher die Täter stammen

Innerhalb der untersuchten Jugendbanden haben rund 73 Prozent der Mitglieder einen Migrationshintergrund, also mindestens ein Elternteil, das nicht in Deutschland geboren wurde. Die meisten stammen vom Balkan, gefolgt von der Türkei. An dritter Stelle: Russen und Jugendliche aus früheren Sowjetrepubliken. Knapp 63 Prozent der Jugendlichen haben die deutsche Staatsangehörigkeit, rund 37 Prozent eine ausländische.

Der Grund für den hohen Migrantenanteil liegt aus Sicht von Polizei und Justiz zum einen am Stadtteil, etwa in Augsburg-Oberhausen, wo die "54er" unterwegs sind: Die Familien haben wenig Geld, die Wohnblocks stehen eng, die Mieten sind vergleichsweise günstig. Deswegen leben hier auch viele Menschen mit Migrationshintergrund. Und deswegen hat auch die Bande aus dem Viertel viele Mitglieder mit Migrationshintergrund. Zum anderen liegt es am beschriebenen Männlichkeitsbild mancher Kulturkreise. Vor allem aber sei es Perspektivlosigkeit, die Jugendliche in die Kriminalität treibe, so die Ermittler.

Der Staat wurde während Corona zum Feindbild

Hinzu kam Corona. Homeschooling in beengten und oft schwierigen Familienverhältnissen. Die Jugendclubs waren geschlossen. Aus Parks wurden die Jugendlichen von Polizei oder Ordnungsdienst vertrieben. Der Staat wurde als Feind wahrgenommen. Auch aufgrund dieser Erfahrung betont Kriminaldirektor Huber: "Der öffentliche Raum gehört allen."

Auch Jugendgruppen hätten das Recht, sich im öffentlichen Raum zu treffen. "Und die Allgemeinheit hat das ein Stück weit hinzunehmen, auch wenn diese Jugendlichen nicht so aussehen, wie Otto-Normalbürger sich das vorstellt", so Huber weiter. Die Grenze sei jedoch erreicht, wenn es zu Pöbeleien komme, oder Graffitis gesprüht würden. "Dann werden wir aktiv, und zwar bevor es um Straftaten geht."

Wie Straftäter resozialisiert werden

Wenn es doch zu Straftaten kommt, schicken die Gerichte die Verurteilten oft zu Erwin Schletterer. Er leitet den "Brücke e.V. Augsburg", der sich um straffällige Jugendliche kümmert. In Rollenspielen wird trainiert, auf Kränkungen oder Enttäuschungen nicht gleich mit Gewalt zu reagieren. "Wir können nicht alle retten, aber das funktioniert", sagt Schletterer. Immer wieder würden Jugendliche von Situationen berichten, die sie ohne Schläge lösen. "Dann gibt es auch mal Applaus von der Gruppe."

Es brauche immer Zeit und Aufwand, um die Jugendlichen zu erreichen. "Haft kostet den Steuerzahler aber mehr als unsere Kurse", sagt Schletterer. Er betont, dass manche gerade im Gefängnis ein Selbstverständnis als Kriminelle entwickeln. Die Rückfallquoten nach einer Haftstrafe seien hoch. Bei einigen Intensivtätern kommt aber auch das Team von Schletterer nicht weiter. Dann geht es am Ende doch ins Gefängnis. Die Vorteile hier: Wenn die Haft ein bis zwei Jahre dauert, reißt der Bezug zur Bande schnell ab - und der Häftling kann sich in den Gefängnismauern auf Schule oder Ausbildung fokussieren.

Wer die Opfer der Banden sind

Bleiben die Opfer. Meist sind es andere Jugendliche, die ausgeraubt oder verprügelt werden. "Die meisten Opfer sind zwischen 17 und 20 Jahre alt, kaum jemand ist über 30", so Kriminaldirektor Huber. Menschen über 60 seien so gut wie nie Opfer krimineller Jugendgruppen. Und noch etwas gehöre zur Wahrheit, sagt "Brücke"-Leiter Erwin Schletterer: "Viele dieser Jugendlichen sind Täter und Opfer zugleich."

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Grafische Darstellung der Anzahl von Delikten insgesamt und Gruppendelikten von tatverdächtigen Jugendlichen in Bayern.

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