Nina Frank hat sich extra eine Thermobox zugelegt, damit Wurst und Käse auch im Sommer die etwas längere Autofahrt überstehen. Die Erzieherin aus dem 1.000-Einwohner-Dorf Auhausen am nördlichsten Zipfel des Landkreises Donau-Ries wird gerade als Lebensmittelretterin bei der Initiative Foodsharing eingelernt. "Ich habe schon geheult, wenn ich daran denke, dass gute Lebensmittel einfach weggeschmissen werden", sagt Nina Frank. Nach Stationen in größeren Städten und auch in Indien ist sie jetzt wieder in ihr Heimatdorf gezogen. Und will mithelfen, auch auf dem Land ein Verteilungsnetz für gerettete Lebensmittel aufzubauen.
Lebensmittel retten: Initiative wächst auch auf dem Land
In einem türkischen Lebensmittelladen zeigt die Weißenburger Foodsaving-Botschafterin Martina Lindner, was bei einer Abholung zu beachten ist. "Wir sortieren erst die Backwaren", sagt sie, "aus hygienischen Gründen." Die Lehrerin hat zusammen mit zwei anderen Frauen die Foodsharing-Initiative im Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen gegründet. "Vor einem Jahr waren wir noch zu dritt", sagt Lindner und: inzwischen stehen 49 Personen auf der Liste der aktiven Abholer. "Davon sind mehr als die Hälfte jünger als 40 Jahre“, sagt Lindner. Es sind deutlich mehr Frauen als Männer. Auch Ladeninhaberin Fatma Arslan teilt ihr Ziel: "Hauptsache nicht wegschmeißen – das ist das Wichtigste“, sagt sie. Für viele Menschen sei das Geld in den letzten zwei Jahren knapper geworden. "Frau Arslan ist mir vor Erleichterung fast um den Hals gefallen, als ich sie angefragt habe", sagt Martina Lindner.
Alles wird gerecht aufgeteilt
Für das Abholen gibt es klare Regeln: Die ehrenamtlich Tätigen ziehen mindestens zu zweit los, um von Supermärkten und Lebensmittelläden aussortierte Waren abzuholen. Um Streit zu vermeiden, wird alles gerecht aufgeteilt, sagt Martina Lindner. Von 20 Stück Hefe bekommt jede zehn. Das Büschel Minze wird geteilt, den Eimer Fetakäse darf Nina mitnehmen, Martina nimmt die Wurst. In dem kleinen türkischen Lebensmittelladen schauen die Retterinnen drei Mal pro Woche vorbei, jeweils zu einem vereinbarten Termin. "Zehn bis 20 Kilo Gemüse, Brot und Käse sind es meistens", so Lindner. Und was tun mit einer ganzen Packung scharfer, grüner Chillischoten? "Die kann man trocknen und zu Pulver verreiben", sagt Nina.
Wohin mit 25 Kilo Putenwurst?
Während die beiden Frauen zwei Kisten voller Lebensmittel sortieren, werden Erfahrungen und Rezepte ausgetauscht. Denn was im Angebot ist, ist jedes Mal eine Überraschung. "Neulich hatte ich 20 Büschel Radieschen", sagt Martina beim Sortieren. Man könne das welke Grün abschneiden, die Radieschen in Wasser legen. "Dann werden sie wieder richtig knackig." Sie habe die Radieschen gerieben und eine riesige Schüssel Radieschen Salat daraus gemacht.
Die letzte große Herausforderung waren 25 Kilo Putenwurst, schon länger über dem Haltbarkeitsdatum. Martina Lindner hat in ihrer Garage - öffentlich zugänglich - einen Kühlschrank aufgestellt. Über eine Nachrichtengruppe in den sozialen Medien informiert sie ihr Netzwerk, was gerade vorrätig ist. "Die Wurst war noch gut, ich habe alles weggekriegt", sagt sie und grinst. Nur was wirklich keiner mehr haben wolle, könne auch mal an die Hühner verfüttert werden.
Hauptsache nichts wegwerfen – Bedürftigkeit weniger wichtig
Und wenn sich jemand an abgelaufener Wurst den Magen verdirbt? "Wer bei Foodsharing mit macht, handelt auf eigene Verantwortung“, sagt Martina Lindner. Eine Haftung gebe es ausdrücklich nicht. "Jeder kann selbst entscheiden, ob er Schimmel von einer Paprika abschneidet, oder sie eben nicht mehr verwendet." Bei der Verteilung gilt die Regel, wer zuerst kommt, bekommt die Sachen. "Es geht uns darum, nichts wegzuwerfen", so Lindner. "Die Bedürftigkeit spielt weniger eine Rolle."
Keine Konkurrenz zu Tafeln
Und sie betont, keine Konkurrenz zu den Tafeln sein zu wollen. "Wir nehmen der Tafel nichts weg", sagt sie. Foodsharer kommen, wenn die Tafeln keine Kapazitäten haben. "Die holen zum Beispiel zwei Mal die Woche - und wir an einem anderen Tag, wo sie sowieso keine Zeit haben", so Lindner. Die Speis in Gunzenhausen hat dienstags und freitags geöffnet. "Wir sehen Foodsharing bisher noch nicht als Konkurrenz", sagt Lydia Mägerlein, Leiterin der Speis in Gunzenhausen. "Wir sind im guten Kontakt und geben sogar manchmal an die ab, was bei uns übrigbleibt", so Mägerlein. Darüber hinaus gibt es noch dutzende Supermärkte, bei denen bisher niemand aussortierte Lebensmittel holt.
Verabredungen laufen online
Die Organisation von Einarbeitung und Abholungsterminen läuft auf einer Online-Plattform, die viele vom Handy aus bedienen können. Dass Verabredungen eingehalten werden, ist deutschlandweit tätigen Foodsharing-Organisation wichtig. "Der schlimmste Fall wäre, wenn Sachen vorbereitet sind und niemand zum Abholen kommt." Deshalb werden Foodsharer eingearbeitet – und jeweils eine Person ist für einen Betrieb verantwortlich. Aktuell arbeitet die Initiative im Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen mit zwei großen Supermärkten zusammen. "Hier gehen drei Ehrenamtliche mit jeweils fünf Kisten nach Hause", so Lindner. So viel könne keiner alleine verarbeiten. Deshalb sei es wichtig, ein Netz von Abnehmenden aufzubauen.
Film als Initialzündung für die Initiative
Die Initiative Foodsharing ist im Jahr 2012 in Berlin entstanden, inzwischen gibt es nach eigenen Angaben rund 500.000 Lebensmittelretter in Deutschland, Österreich, der Schweiz und anderen europäischen Ländern. Der Film "Taste the Waste" spielte bei der Gründung eine wichtige Rolle. Auch für Nina war dieser Film einer der Gründe mitzumachen. Und: dass sie in Indien hungernde Menschen erlebt hat. "Es geht mir ein Mann nicht aus dem Kopf, der sich von erbetteltem Geld trockene Reiskörner gekauft hat. Und wir werfen gesunde Sachen in den Müll. Mir war klar, dass ich da was machen muss."
Ninas Ausbeute: in wenigen Minuten aufgeteilt
Beim kleinen türkischen Lebensmittelladen in Weißenburg hat Nina beim ersten Einarbeitungstag zwei Kisten voller Lebensmittel mitnehmen können. Hefe, Champignons, Sesamringe. Eine knappe halbe Stunde Fahrt liegt zwischen dem Abholort und ihrem Heimatort. Langfristig will sie in näher gelegenen Supermärkten Lebensmittel retten.
Ninas große Familie hat schon auf die Lieferung gewartet. Mutter und Patin kommen mit Einkaufskörben, die Kinder der Cousine schauen vorbei. Nach wenigen Minuten ist fast alles verteilt. Die Hefe für den Osterzopf, Schafskäse für die Brotzeit. Für Nina bleibt auch noch etwas übrig. "Sieht so aus, dass es heute einen bunten Salat gibt", sagt sie.
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