Stünde Andy Wirsz alle Zeit der Welt zur Verfügung, wären von ihm wohl viele Bücher zu erwarten. Den Kopf hat der 32-Jährige voller Ideen für Romane, für Gedichte. Wirsz liebt es, Herr der Geschichten zu sein. "Aber ein Buch braucht Zeit", sagt er, "und Zeit ist etwas, das ich nicht habe". Denn die wichtigste Geschichte – die seines eigenen Lebens – entgleitet ihm gerade. Unverschuldet.
Wenn die Muskeln schwinden
Wirsz sitzt im Rollstuhl. Er kann die Arme nur minimal bewegen, Sprechen geht aber ganz gut. Grund für seine Einschränkungen ist die Krankheit Muskeldystrophie vom Typ Duchenne. Etwa 2.000 Betroffene gibt es laut der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke in Deutschland. Die Muskeln der Patienten, fast ausschließlich Jungen und Männer, bilden sich immer weiter zurück, auch das Herz und die Atemwege sind im Verlauf betroffen.
Was Wirsz im Alltag nicht alleine schafft, gleichen Freunde und Familie aus. Beim Spieleabend steckt sein Cousin die Spielkarten in eine Vorrichtung und sein bester Freund reicht ihm das Bier mit einem Strohhalm zum Trinken.
Medikament könnte es bald nicht mehr geben
Wirsz mag sein Leben so, wie es gerade ist. Die Krankheit hat er im Griff: Dank des Medikaments "Translarna". Das bekommt Andy, seit er 14 Jahre alt ist. Die Arznei verlangsamt den Verlauf der Krankheit, davon sind Betroffene und Mediziner überzeugt. Andy hatte ursprünglich eine Lebenserwartung von weniger als 18 Jahren, jetzt ist er 32. Er hat sein Abi gemacht, verselbstständigt sich mit seinen Werken und hat schon Regie bei einem Film geführt. Doch nun soll Translarna vom Markt genommen werden. Schon jetzt zahlen die Krankenkassen das Medikament nicht mehr. Denn es kostet rund 400.000 Euro pro Patient und Jahr. Wirsz sagt: "Meine Vorräte gehen mir aus. Ohne die werde ich sterben. Ich habe Angst!"
Streit um Studienlage
Zehn Jahre lang hatte Translarna eine vorläufige Zulassung, die ist nun ausgelaufen. Ob sie verlängert wird, entscheidet die EU-Kommission. Beraten wird die von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA). Und die sagt: "Ein Medikament kann nur dann zugelassen werden, wenn seine Wirksamkeit ebenfalls nachgewiesen wurde. Im Fall von Translarna wurde das Nutzen-Risiko-Verhältnis als negativ eingestuft, da die Wirksamkeit nicht bestätigt wurde." Meist folgt die EU-Kommission der Empfehlung.
Andys Vater, Emil Wirsz, ist der Meinung: Die Art, wie die Ergebnisse ausgewertet werden, passt nicht zu der Art der Krankheit. In ganz Europa gebe es nur circa 800 Patienten. Nur ein Zehntel der Patienten mit Duchenne bekommen Translarna. "Da ist es sehr schwierig, eine statistische Signifikanz zu erlangen, so wie bei Krankheiten, die Hunderttausende Patienten betreffen", sagt er.
Mediziner sind sicher: Translarna wirkt
In Italien hat sich eine Gruppe von 27 Kinder- und Jugendneurologen mit einem Schreiben an die EMA gewandt. Das Dokument liegt dem BR vor. Laut diesem betreut die Gruppe fast alle betroffenen Patienten in Italien und sammelt Daten. Die Mediziner beteuern die Wirksamkeit des Medikaments.
Andys Zustand sei "eine Besonderheit"
Auch Wirsz' Ärztin setzt sich für Translarna ein. Prof. Dr. Regina Trollmann leitet die Fachabteilung für Neuropädiatrie am Klinikum Erlangen. Wirsz kennt sie, seit er fünf Jahre alt ist. Nach all der Zeit "ist es eine Besonderheit, dass wir uns so gut unterhalten können, weil deine Stimme sich in den vielen Jahren nicht verschlechtert hat", sagt sie bei einem Treffen. Trollmann schlussfolgert: "Das Medikament wirkt." Könnte die Therapie nicht fortgesetzt werden, sei das Risiko sehr hoch, dass Wirsz bald künstlich beatmet werden müsste.
Auch Wirsz' Freunde und seine Familie setzen sich für ihn ein. Sie haben ein Video gedreht und eine Petition aufgesetzt. Und sie wollen vor der EMA in Amsterdam demonstrieren. Dort soll in den kommenden Tagen die finale Entscheidung getroffen werden. Wenn diese negativ ausfällt, wollen seine Unterstützer vor den Europäischen Gerichtshof ziehen.
- Zum Artikel: "Seltene Erkrankungen: Eine App hilft bei der Erforschung"
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