"Ich habe mich irgendwann selbst schuldig gefühlt", erzählt Georg. Der heute 70-Jährige heißt eigentlich anders, möchte aber anonym bleiben. Er lebt bis heute in Würzburg, ist nie weggezogen aus der Stadt, in der er ab 1957 die "Hölle auf Erden" erlebt hat, wie er sagt. Sieben Jahre lang wurde er von einem Musiklehrer im Kinderheim sexuell missbraucht, von einigen Nonnen der Erlöserschwestern geschlagen und misshandelt. Die Wickenmayer'sche-Kinderpflege wurde von dem Orden geleitet. Träger war das Jugendamt der Stadt Würzburg, die den Musiklehrer auch eingestellt hatte. Ein Versagen bei Staat und Justiz, sagt Professor Heiner Keupp, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch.
Stadtrat zahlt Missbrauchsopfern Entschädigung
Für den geschehenen Missbrauch will die Stadt deshalb jetzt Verantwortung übernehmen. Würzburg ist damit nach München erst die zweite Kommune bundesweit, die einen solchen Beschluss gefasst hat: Für die Opfer soll Geld zur Verfügung gestellt werden, wie der Stadtrat am Donnerstag entschieden hat. "Die Taten sind zwar strafrechtlich nicht mehr relevant. Wir stellen uns aber freiwillig dieser Verantwortung – es geht hier um eine moralische Verantwortung, die die Stadtverwaltung hat gegenüber ihren minderjährigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die ja dem Jugendamt im besonderen Maße anvertraut gewesen sind." Der Beschluss im Stadtrat wurde einstimmig gefasst.
Expertenkommission fordert von Kommunen Aufarbeitung
Der Unterschied zu München: Dort hat der Stadtrat außerdem eine Aufarbeitungskommission gegründet. Das ist in Würzburg zunächst nicht geplant. Man wolle erst die Erfahrungen aus der Landeshauptstadt im Frühjahr abwarten und dann gegebenenfalls ähnliche Schritte gehen.
Es sei gut und wichtig, dass Würzburg zumindest diesen Schritt der Entschädigungszahlung gehe, sagt Professor Heiner Keupp von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Er fordert aber darüber hinaus, dass "das Geschehene unbedingt auch gründlich aufgearbeitet werden" müsse, man sich "nicht auf die Zahlungen und die Aufarbeitung der Kirche rausreden" könne. Nur so können Strukturen analysiert werden, die Missbrauch begünstigen – und entsprechend Präventionsmaßnahmen etabliert werden. Denn gerade in den 1950er bis 1980er Jahren hätten die Kirche und staatliche Institutionen eng zusammengearbeitet – verantwortlich für Missbrauchsfälle seien oft beide Seiten.
Missbrauchs-Opfer: "Er hat seinen sexuellen Trieb an uns Kindern ausgelebt"
Wie viel Geld Georg von der Stadt zugesagt wird, ist noch offen. Die Zahlung erhält er "auf Antrag und nach einer Plausibilitätsprüfung", wie es von der Stadt heißt. Ein schmerzhafter Weg: Schon um die Zahlungen vom Bistum Würzburg zu erhalten, musste er seine Erfahrungen detailliert schildern. Denn der Musiklehrer, der Georg ab 1960 sieben Jahre lang sexuell missbraucht hat, war Kirchenmusiker, ein Mitarbeiter des Bistums. "Als ich neun war, fing er an mir in die Hose zu greifen", erzählt Georg mit sichtlichem Ekel. "Weil er erregt war, hat er meine Hand genommen und zu seinem Geschlechtsteil geführt." All das passiert in einem der Zimmer im Kinderheim, dem Musikzimmer: ein Klavier, ein Tisch, ein Sofa, erinnert sich Georg heute.
Vorwurf, dass Ordensschwestern weggeschaut haben
Die Ordensschwestern haben vom Missbrauch gewusst, ist sich Georg sicher. Es seien ja mehrere Kinder gewesen, an denen sich Herr S. immer wieder vergangen habe. Georg habe den Nonnen davon erzählt. Sie glaubten dem damals Neunjährigen nicht - er kassierte Schläge. Die standen ohnehin auf der Tagesordnung, schildert Georg: "Für jede Kleinigkeit wurdest du geschlagen. Es gab zum Beispiel eine Strafe, da musstest du mehrere Stunden auf einem Buch mit erhobenen Händen knien." Wer die Hände herunternahm oder sich umdrehte, bekam Schläge.
Gewalt als "Erziehungsmethode": Orden entschuldigt sich
Die Generaloberin der Kongregation der Schwestern des Erlösers, Schwester Monika Edinger, erklärt auf Nachfrage von BR24: "Ich kann nur mein Bedauern ausdrücken und um Vergebung bitten für das erlittene Leid." Körperliche Gewalt sei zur damaligen Zeit als "Erziehungsmethode" eingesetzt worden – das könne man heute schwer nachvollziehen und "unter keinen Umständen weder damals noch heute gutheißen." Heute setze man im Orden auf Schutzkonzepte. Man sei im Gespräch mit den Opfern, mit dem Bistum und der Stadt.
Georg leidet bis heute unter den Folgen des Missbrauchs
2020 hat Georg erstmals einen Antrag auf Anerkennungsleistungen bei der Kirche gestellt. Das zugesagte Geld: Gerade einmal eine vierstellige Summe. Auch Bischof Franz Jung ermutigte ihn im Gespräch, erneut einen Antrag an die Kirche zu stellen und eine höhere Summe zu fordern. Immerhin haben Missbrauchsopfer anderswo schon hohe sechsstellige Beträge zugesagt bekommen. Er legte Widerspruch ein und wartet derzeit auf eine Entscheidung. "Auch das Geld macht es nicht wieder gut: Die Kindheit ist gestohlen, das Leben zerstört." Georg hat nie geheiratet, hat keine Kinder bekommen. Ein gebrochener Mann, bis heute.
Das Geschehene aufarbeiten, Strukturen analysieren, die Missbrauch begünstigen, Präventionsmaßnahmen etablieren, das fordert Georg von den Verantwortlichen in Kirche und Staat: "Solange ein Opfer lebt, ist die Zeit noch aktuell."
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