Die evangelische Kirche und die Diakonie wollen sexualisierte Gewalt unabhängig aufarbeiten. Dazu haben sie sich nun auch gegenüber der Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus, verpflichtet. Neun Seiten hat das Papier, das beide Seiten am Dienstag veröffentlicht haben. Darin ist unter anderem festgehalten, dass Taten, Ursachen und Folgen sexualisierter Gewalt benannt werden und außerdem Missbrauch ermöglichende Strukturen identifiziert werden. Auch das geschehene Unrecht soll anerkannt werden.
"Schmerzlicher Lernprozess" für die Evangelische Kirche
Das alles hört sich selbstverständlich an, ist es aber nicht. Das macht der Münchner Sozialpsychologe Heiner Keupp deutlich. Er ist Experte, wenn es um die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt geht. Mit dem Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) hat er mehrere Studien zu Missbrauchskomplexen gemacht, etwa im Kloster Ettal. Heute ist er Mitglied der bei der Missbrauchsbeauftragten des Bundes angesiedelten Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Er spricht auf einer am Donnerstag zu Ende gegangenen Tagung in der Evangelischen Akademie in Tutzing von einem "schmerzlichen Lernprozess", den die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hinter sich habe.
Fünf Jahre dauerten die Verhandlungen zur am Dienstag unterzeichneten gemeinsamen Erklärung, die es mit der katholischen Kirche bereits seit dem Jahr 2020 gibt. Ein Grund dafür liegt in der Verfasstheit der Protestanten. EKD und Diakonie können keine verbindlichen Entscheidungen für die eigenständigen 20 Landeskirchen und 17 Diakonie-Landesverbände treffen. Doch genau die Landeskirchen beziehungsweise Landesverbände sind für die Aufarbeitung in ihrem jeweiligen Bereich zuständig. Das heißt: Die unterzeichnete Erklärung ist nicht unmittelbar bindend. Immerhin: Darin ist zumindest festgehalten, dass die entsprechenden Beschlüsse zur Umsetzung in den Landeskirchen und Landesverbänden gefasst werden sollen.
Neun regionale Aufarbeitungskommissionen geplant
Am Ende sollen dann neun regionale Aufarbeitungskommissionen stehen. Die EKD hofft, dass diese in den nächsten Monaten eingerichtet werden. Empfohlen wird eine Größe von sieben Mitgliedern, darunter mindestens zwei Betroffene. Weniger als die Hälfte der Mitglieder sollen bei Diakonie oder Kirche beschäftigt sein - so die Theorie. Für Christiane Lange, die sich als Betroffene im Beteiligungsforum der EKD engagiert, wird sich nun zeigen, ob die evangelische Kirche aus ihren Fehlern lernt. Lange prognostiziert in Tutzing, dass noch "viel Geduld" in dem Prozess der Aufarbeitung nötig sein werde. Und sie verweist darauf, dass bisher die Aufarbeitung für Betroffene ein Ehrenamt ist, ein sehr belastendes.
Doch Lange ist auch Forschende, Co-Forschende für die große ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche, die am 25. Januar vorgestellt werden soll. Zusammen mit weiteren Betroffenen und Forschern des IPP wollen sie in einem Teilprojekt, die Erfahrungen und Sichtweisen von Menschen ergründen, die sexualisierte Gewalt in evangelischen Kontexten erlitten haben. Über die Ergebnisse ist bis zur Veröffentlichung Stillschweigen vereinbart.
Protestanten haben sich zu lange hinter Katholiken versteckt
"Ich glaube, dass die evangelische Kirche konfrontiert wird damit, dass sie auch ganz schön viel noch zu erledigen hat. Und das wird kein einfaches Zeugnis für die evangelische Kirche werden", sagt Heiner Keupp. Allzulange hätten sich die Protestanten hinter den Katholiken versteckt. Der frühere Ratsvorsitzende Wolfgang Huber etwa sprach davon, dass man nicht so ein großes Problem mit dem Missbrauch haben werde, da es den Zölibat, also die verpflichtende Ehelosigkeit für Pfarrer nicht gebe. Und der Präsident des Evangelischen Kirchentags in Nürnberg, Thomas de Maizière, erklärte, man habe nicht die gleichen Macht-Strukturen wie die katholische Kirche.
Doch die Berichte Betroffener legen nahe, dass sexueller Missbrauch auch in der evangelischen Kirche ein durchaus systemisches Problem ist von größerer Tragweite als bislang angenommen. Tatorte und Gelegenheitsstrukturen – darauf hat bereits die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs beim Bund auf ihrer Website hingewiesen - unterscheiden sich vom Missbrauch im katholischen Kontext. Betroffene nennen hier Gemeinde, Heim, Pfarrhaus und Pfarrfamilie als Tatorte. Darüber hinaus verweist die Aufarbeitungskommission auf das Selbstbild von einer offenen und liberalen Kirche, das sexuelle Gewalt gegen Kinder begünstigt habe. Berichte von Betroffenen, wie sie etwa im Buch "Entstellter Himmel" gesammelt sind, unterstreichen diese Analyse.
Pfarrhaus und -familie spielen bei sexuellem Missbrauch große Rolle
Und so dürften in der evangelischen Kirche Taten an Jugendlichen im Umfeld von Gemeindearbeit und Konfirmandenunterricht ein anderes großes Feld sein. Das Pfarrhaus und die Pfarrfamilie spielen dabei eine besondere Rolle. Übergriffe werden oft als Liebesbeziehung charakterisiert. Manche Täter seien teils soweit gegangen, die sexuelle Beziehung vor dem 18. Geburtstag der Betroffenen anzubahnen, sie aber erst danach zu vollziehen. All das sorgt dafür, dass Betroffene, aber vor allem Gemeinden und Kirchenleitung die Schuld oftmals nicht beim Pfarrer sehen.
Das alles muss nun in den Aufarbeitungskommissionen, wie sie in der Gemeinsamen Erklärung vereinbart wurden, thematisiert werden. Darin waren sich Experten wie Betroffene auf der Tagung in Tutzing einig: Es darf nicht dabei bleiben, dass die Institutionen selbst Aufarbeitung gestalten oder auch nicht. Der Staat ist gefragt. Keupp etwa verweist darauf, dass es in Rheinland-Pfalz bereits eine eigene Aufarbeitungskommission gebe, in Nordrhein-Westfalen und Hessen gebe es bereits weitreichende Schritte dorthin. "Der Freistaat ist da bisher einiges schuldig geblieben", so der Sozialpsychologe mit Blick auf Bayern.
Staat ist beim Thema Missbrauch in der Pflicht
Eine weitere Perspektive eröffnete in Tutzing Susanne Nothhafft, Professorin für Recht an der Katholischen Stiftungshochschule in München. Sie sieht etwa durch die UN-Menschenrechts- und Kinderrechtskonvention den Staat in der Pflicht, die Aufarbeitung an sich zu ziehen. Schließlich sei er aus den Konventionen heraus zu einem aktiven Schutz verpflichtet. Es gebe also ein Recht auf Aufarbeitung und Wiedergutmachung. Betroffene wie Richard Kick vom Betroffenenbeirat des Erzbistums München und Freising, sehen sich dadurch bestärkt, weiter für mehr Engagement des Freistaats zu kämpfen.
Buchhinweis: "Entstellter Himmel - Berichte über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche", herausgegeben von Christiane Lange, Andreas Stahl und Erika Kerstner im Herder-Verlag.
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