Als Sophie Ruhlig vor die Presse tritt, wirkt sie gefasst. Doch als sie beginnt zu beschreiben, was ihr vor 46 Jahren bei den Pfadfindern passiert ist, kämpft sie mit den Tränen: "Dir glaubt sowieso keiner", hatte ihr der Gruppenleiter damals gesagt, um sie zum Schweigen zu bringen. Über zwei Jahre lang hat er die damals Elfjährige missbraucht. Heute ist es das erste Mal, dass Sophie Ruhlig darüber öffentlich spricht.
Studie beleuchtet sexualisierte Gewalt über drei Jahrzehnte
Der Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) veröffentlichte heute eine Studie, die der Jugendverband beim Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) in Auftrag gegeben hat. Die Sozialwissenschaftler untersuchten dafür sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im BdP zwischen 1976 und 2006. Sophie Ruhlig ist 2021 dem Aufruf der Wissenschaftler gefolgt und hat zunächst ihnen ihre Geschichte erzählt. Anhand solcher Geschichten Betroffener, oder Erfahrener, wie sich Sophie Ruhlig selbst lieber bezeichnet, haben die Forscher die Vergangenheit des BdP untersucht.
103 Betroffene zwischen 1976 und 2006 – die Dunkelziffer ist vermutlich hoch
Insgesamt haben sich 74 Menschen auf den Aufruf hin beim IPP gemeldet. 103 Betroffene, Mädchen wie Jungen gleichermaßen, und 36 Beschuldigte ermittelte die Studie innerhalb des BdP. Aus den Interviews und anonymen Briefen ergibt sich ein Bild komplexer Strukturen, die die unterschiedlichen sexualisierten Übergriffe an Kindern und Jugendlichen begünstigt haben. Die reichten von Beschimpfungen, über grenzüberschreitende Spiele und Mutproben, bis hin zur Vergewaltigung.
Das Kern-Konzept der Pfadfinder ist zugleich Stärke und Problem
Junge Menschen übernehmen Verantwortung für noch jüngere. "Dadurch entsteht noch mal ein anderes Verantwortungsproblem, als bei der katholischen Kirche, wo ganz klar ist, das ist oben, die sind verantwortlich", sagt Helga Dill vom IPP München. Jugendliche Leiter wären teils überfordert gewesen, wenn es zu Situationen sexualisierter Gewalt kam.
Gleichzeitig konnten sie in einer Atmosphäre, in der zum einen wenig über Sexualität und Grenzen gesprochen wurde und zum anderen Verdachtsfälle häufig unter den Mantel des Schweigens gehüllt wurden, leicht selbst Opfer werden, so Dill. Eine weitere Besonderheit sieht die Studie in der sehr starken Verbundenheit der Mitglieder zum eigenen Stamm, wie sich die Ortsgruppen nennen. Peter Caspari, Autor der Studie, berichtet von Attributen wie "Ersatzfamilie, oder zweite Familie". Diese große Loyalität führte oft dazu, dass sich Kinder nicht geäußert hätten und Mitwissende Angst hatten, als Nestbeschmutzer zu gelten. Insbesondere gab es für die Opfer sexueller Gewalt keine unabhängigen Anlaufstellen. Zudem hätte es generell eine starke Ignoranz gegenüber den Opfern gegeben.
Auf Täterseite nutzten besonders jugendliche Täter, wie zum Beispiel Gruppenführer, ihre Machtposition aus. Bei älteren Erwachsenen, mit einem Ruf als verdienstvolle Pfadfinder, war es der eigene "Kultstatus". Sie setzten auf die Unentbehrlichkeit ihrer Funktion, um sich ungeahndet an Kindern zu vergreifen, wie die Studie zeigt.
Wie wird heute dem Thema sexualisierte Gewalt begegnet?
Marlon Gemmer ist Gruppenleiter beim Stamm "Robin Hood" in Ottobrunn bei München. Einmal in der Woche trifft er sich mit seiner "Meute", wie die Gruppen der jüngsten Pfadfinderinnen und Pfadfinder genannt werden. Gemmer ist mit seinen 21 Jahren unter den Meuten-Führern schon einer der Älteren. Ihm seien noch keine Fälle sexualisierter Gewalt begegnet, trotzdem habe er Respekt vor seiner Aufgabe: "Es ist viel Verantwortung, die man hat. Es werden einem die Kinder von den Eltern teilweise blind anvertraut."
Um diese Verantwortung übernehmen zu dürfen, muss jeder, der eine Gruppe leiten will, Schulungen absolvieren und die Jugendleiter-Karte (Juleika) erwerben. Sexualisierte Gewalt sei hierbei ein Thema, wenn auch eher am Rande, erzählt Marlon Gemmer. Regelmäßige Auffrischungen hält er für sinnvoll: "Sicher, gerade bei dem Thema, kann man sich nicht fühlen, weil, es wird immer wieder Situationen geben, die man nicht vorhersehen kann." Hierfür wurde 2001 der BdP-Arbeitskreis "Intakt" gegründet. Das Team gibt Schulungen, klärt unter den Stämmen auf, schult Gruppenleiter und kümmert sich bei Verdachtsfällen um die Intervention.
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Nachholbedarf bei vielen deutschen Jugendorganisationen
Womit der BdP gerade anfängt - im Gegensatz zu vielen anderen Jugendorganisationen in Deutschland - ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Defiziten: Wo sind Gefahren für Kinder, welche Strukturen begünstigen Grenzverletzungen? Mechthild Wolff von der Hochschule Landshut hat in ihren Untersuchungen gezeigt, dass fast die Hälfte der deutschen Jugendorganisationen keine Schutzkonzepte haben. "Da ist noch viel Luft nach oben". Sie hat die Hoffnung, dass die Studie im BdP andere Verbände unter Zugzwang setzt. Wichtig ist auch, dass sich Jugendliche und Kinder ihrer Rechte bewusst sind. Hierfür müssen aber nicht nur die Verbände sensibilisiert werden, sondern auch die Eltern.
Was Eltern tun können
Vor allem eines ist für Eltern wichtig: Genau hinschauen und mit den Kindern reden. Nicht einfach "blind anvertrauen", sondern aktiv bei den Organisationen nachfragen, welche Schutzkonzepte bestehen, bevor die Kinder angemeldet werden, sagt Mechthild Wolff. Außerdem sollte auf Verhaltensänderungen der Kinder geachtet werden. Die können ein Hinweis auf Belastungen und seelische Verletzungen sein. Zieht sich das Kind zurück? Hat es Schlafstörungen oder Angstzustände, zeigt es selbstverletzendes Verhalten? Solche Signale sollten Eltern ernst nehmen und offen ansprechen. Wichtig ist es, nichts zu tabuisieren.
Die Aufarbeitung fängt jetzt erst richtig an
Auch wenn in der Vergangenheit im BdP eher eine Kultur des Wegschauens herrschte, Peter Caspari vom IPP würdigt, dass der BdP jetzt, als Jugendverband "eine Menge Mut bewiesen hat, mit diesem Projekt an die Öffentlichkeit zu gehen." Der BdP habe ein echtes Interesse zur Aufarbeitung gezeigt. Der Verband selbst entschuldigt sich bei den Opfern, für das Leid, das ihnen zugefügt wurde und will nun das Schutzkonzept überarbeiten und mit den einzelnen Stämmen weiter an der Aufarbeitung arbeiten.
Sophie Ruhlig hat die Hoffnung, dass vor allem andere Opfer von sexualisierter Gewalt den Mut finden über ihre Erfahrungen zu sprechen: "Solange ihr nicht über eure Geschichte sprecht, bleibt ihr in der Verbindung mit dem Täter. Es ist gut, richtig und wichtig, sich zu zeigen." Vom BdP hingegen wünscht sie sich, dass der Verband jetzt wirklich aufarbeitet und dranbleibt und "sich selbst auch die Chance gibt, das, wofür sie stehen, zu halten und zu leben."
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