Rechtsanwalt Werner Dietrich vertritt 16 Betroffene des Oktoberfest-Anschlags und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Bundesanwaltschaft vor bald sechs Jahren die Ermittlungen zu dem Attentat noch einmal aufgenommen hat. Zwar endete auch diese zweite Untersuchung weitgehend ergebnislos, doch in ihrem im vergangenen Juli vorgelegten Abschlussbericht stellte die Bundesanwaltschaft nach fast 40 Jahren erstmals fest, dass die Tat politisch motiviert war. Und auch sonst hat der Generalbundesanwalt nach Ansicht Dietrichs Maßstäbe gesetzt.
Ein Abschlussbericht, der Maßstäbe setzt
"Die Abschlussbekanntmachung des Generalbundesanwalts sollte zu Fortbildungszwecken bei der Polizei verwendet werden", fordert der Opferanwalt. Denn darin werde klargestellt, dass Polizei und Staatsanwaltschaften den politischen Motiven von Attentätern immer besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. Die bei den Ermittlungsbehörden verbreitete Praxis, insbesondere rechte Terroristen regelmäßig als irrationale und psychopathische Einzeltäter abzutun, müsse nun endgültig ad acta gelegt werden.
Reichsbürgerideologie schon in den 1960ern
Beim Blick in die Ermittlungsakten der Bundesanwaltschaft zum Oktoberfest-Attentat werde zudem deutlich, dass die Geheimdienste offensichtlich ein sehr klares und umfassendes Bild der Neonazi-Szene der 1960er und 1970er hatten. Damals habe sich die Szene radikalisiert, immer mehr Aktivisten hätten sich konspirativ organisiert und bewaffnet. Und schon damals sei eine Ideologie weit verbreitet gewesen, die heute von den sogenannten „Reichsbürgern“ gepflegt wird: Das Deutsche Reich sei mit der totalen Niederlage des Nazi-Regimes 1945 nicht untergegangen, sondern existiere weiter. "Alles was wir heute von den Reichsbürgern wissen, gab es schon damals", betonte Rechtsanwalt Dietrich. Und die Ämter hätten davon gewusst. Die Frage sei, warum daraus keine Konsequenzen gezogen wurden.
"Immerhin gibt es Anlass zur Hoffnung, dass in Zukunft terroristische Gewaltakte auch von Anfang an so bezeichnet, konsequent verfolgt und geahndet werden." Rechtsanwalt Werner Dietrich
Der Verfassungsschutz als Problem
Weniger optimistisch sieht das der Fachjournalist Robert Andreasch. Für ihn ist insbesondere der Verfassungsschutz das Problem, der lieber seine V-Leute in der Neonazi-Szene schütze als aktiv rechte Gewalt zu verhindern. Es gebe eine lange Tradition der Verstrickung des Verfassungsschutzes mit der extrem rechten Szene. "Die wiederkehrenden Muster sprechen nicht für Fehler sondern für gezieltes Handeln."
Auch innerhalb der Neonaziszene lassen sich laut Andreasch Kontinuitäten feststellen. Die selben Terror-Handbücher, die schon Ende der 1970er Jahre unter Rechtsextremisten kursierten und die später von den Mitgliedern und Unterstützern des NSU gelesen wurden, stünden heute auf Internetseiten von „Reichsbürgern“ zum Download bereit. Und darin werde unverblümt zu brutalster Gewalt aufgerufen, so heiße es etwa in den berüchtigten Turner Diaries wörtlich: „Terror muss schocken, er muss unberechenbar sein.“
War das Oktoberfest-Attentat eine Aktion unter falscher Flagge?
Dennoch sei das Okoberfest-Attentat eher untypisch für rechten Terror, betonte der Soziologe Matthias Quent, der in Jena das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft leitet. Denn die meisten extrem rechten Gewaltakte richteten sich gegen Minderheiten und politische Gegner von Neonazis. „Rechtsextremisten greifen Menschen an, die aus ihrer Sicht minderwertige sind.“ Dieser Gewalt seien in den letzten 30 Jahren über 200 Menschen zum Opfer gefallen.
Das Oktoberfest-Attentat sei deshalb wohl vor allem aus der besonderen historischen Konstellation im Ost-West-Konflikt und vor allem mitten im damals laufenden Bundestagswahlkampf zu verstehen. Quent hält es für möglich, dass es sich bei dem Anschlag um eine sogenannte False-Flag-Aktion, gehandelt hat, dass das Attentat also eigentlich Linksterroristen in die Schuhe geschoben werden sollte. So wie bei dem schweren Anschlag im Bahnhof von Bologna in Italien, bei dem 85 Menschen ermordet wurde – nur wenige Woche vor dem Oktoberfest-Attentat. Im Fall Bologna sei heute erwiesen, dass er von italienischen Faschisten als Falsche-Flagge-Aktion geplant war. Ähnliche Strategien würden auch heute noch in der rechten Szene diskutiert, etwa in der vor wenigen Jahren aufgeflogenen Terrorgruppe "Old School Society", deren Anführer aus Augsburg stammte.
"Wer mit Waffen trainiert, setzt sie auch ein"
Die Fachjournalistin Andrea Roepke appellierte vor diesem Hintergrund an Politik, Gesellschaft und Medien die Gefahr endlich ernst zu nehmen: "Wir müssen endlich kapieren: Wer mit Waffen trainiert, der setzt sie auch ein." Auf die Geheimdienste sei im Kampf gegen rechts jedoch kein Verlass. "Die Zivilgesellschaft ist gefragt. Und auch die Erfahrung der Betroffenen kann uns weiterhelfen."
Dass die Betroffenen rechter Anschläge viel mehr Gehör finden müssen, das betonte auch die Münchner Professorin Gabriele Fischer, die zu Erinnerungskultur forscht. Rechte Terrortaten seien Botschaftstaten, die sich nicht nur gegen die direkten Opfer richten. "Gemeint sind viel mehr."
Umso wichtiger sei es, nach solchen Taten das Gespräch zu suchen mit Angehörigen von betroffenen Minderheiten: "Was haben zum Beispiel die Angehörigen der Opfer vom Attentat am Olympia-Einkaufszentrum gedacht, als sie von dem Anschlag in Hanau gehört haben?" Fischer schlug deshalb vor einen bundesweiten Gedenktag für Opfer rassistischer und extrem rechter Gewalt einzuführen.
Ein Gedenktag für Opfer rechter Gewalt?
Matthias Quent fürchtet jedenfalls, dass die rechte Szene sich schon bald neue Kampagnenthemen und damit neue Angriffsziele suchen wird: "Das nächste große Thema wird die Klimafrage sein." Schon jetzt gebe es gezielte Angriffe insbesondere auf Aktivistinnen von Fridays for Future. "Wir müssen unsere Wahrnehmung erweitern", mahnte der Soziologe.
Und Moderatorin Heike Kleffner forderte zum Abschluss eine wache Zivilgesellschaft. Gerade bei der Aufklärung all der Terrorakte der vergangenen Monate – von Kassel über Halle bis Hanau – brauche es weiter Druck der Öffentlichkeit.
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