Bayerns Vize-Ministerpräsident und Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger versteht sich gerne als Mann des Volkes – und möchte auch dessen Sprache sprechen. Seine Wortwahl bei einer Demonstration am Wochenende in Erding ging indes vielen zu weit. Vorwürfe wies Aiwanger bislang zurück: Er lasse sich den Mund nicht verbieten.
Die Politikwissenschaftlerin Prof. Nicole Deitelhoff übt im Interview mit dem Politikmagazin Kontrovers deutliche Kritik an den Äußerungen von Bayerns stellvertretendem Ministerpräsidenten. Zwar könne man die Positionen, die in der Bevölkerung vorhanden sind selbstverständlich aufnehmen, sagt Deitelhoff, die auch Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung ist. Sie kritisiert jedoch: "Man muss sich dabei aber nicht einer solchen Sprache bemächtigen, wie Aiwanger das getan hat."
"Alles andere als gute Streitkultur"
Für die Politikwissenschaftlerin gehört eine gute Streitkultur durchaus in eine Demokratie. Etwa, dass man sich an der Sache hart auseinandersetze, aber das Gegenüber in Takt lasse. "Genau das macht Herr Aiwanger nicht, sondern er geht direkt auf die Person und versucht sie zu diffamieren und abzuwerten – und das ist alles andere als gute Streitkultur", analysiert Deitelhoff.
Der Freie-Wähler-Chef forderte am Wochenende unter anderem den Rücktritt der Bundesregierung. Insbesondere wurde in diesem Zusammenhang folgendes seiner Zitate kritisiert: "Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss." Die anwesenden 13.000 Teilnehmer der Demonstration motivierte er bei seiner Rede, die "Berliner Chaoten" vor sich herzutreiben.
Mit solchen Äußerungen würde laut Deitelhoff, die auch am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhang arbeitet, nicht nur der politische Gegner beschädigt, sondern sie verhinderten auch "eine Kultur, die wir in der Demokratie haben, nämlich, dass am man am Ende von harten Auseinandersetzungen wieder zu Kompromissen findet".
Grenze des Sagbaren überschritten?
Für Deitelhoff habe der Freie-Wähler-Politiker mit seinem Auftritt in Erding und seinem Umgang mit der Kritik in den darauffolgenden Tagen die Grenze "definitiv überschritten".
"Letzten Endes verlässt er damit den Boden des demokratischen Miteinanders, weil er sich damit eines rechtspopulistischen Narratives bedient, das wir sehr gut beispielsweise von der AfD kennen. Also diese Idee, dass man sich die Demokratie zurückholen müsste, weil sie irgendjemand ja weggenommen hat, gestohlen hat, das sind normalerweise – wenn man der AfD zuhört – die korrupten Eliten und von denen muss man sich eben die Demokratie zurückholen." Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff
Im Video: "Kontrovers" zu Aiwangers Auftritt in Erding
Kritik an Entlassungs- und Rücktrittsforderungen
Im Interview mit dem BR-Politikmagazin Kontrovers sagt Deitelhoff, sie hätte sich gewünscht, dass Aiwanger sich für seine verbalen Entgleisungen entschuldigt und damit zeigen würde, "dass er eben selber auch bemerkt hat, dass er sich außerhalb des Raums demokratischen Diskutierens begeben hat". Eine Solche Entschuldigung blieb bislang jedoch aus - auch bei der Regierungserklärung Aiwangers am Mittwoch im Landtag.
In der Folge forderten die Grünen und die SPD in Bayern die Entlassung beziehungsweise den Rücktritt des stellvertretenden Ministerpräsidenten. Das jedoch bewertet Deitelhoff ebenfalls als destruktiv: "Wir leben ja momentan in so einer Phase, wo Rücktrittsforderungen bei kleinsten Entgleisungen immer sofort geäußert werden", sagte sie im Interview. Das halte sie nicht für besonders konstruktiv, gar "unverantwortlich".
Expertin: Aiwanger-Äußerungen spielen dem rechten Rand in die Karten
Kurzfristig könnten Hubert Aiwanger und seine Partei unter Umständen von einer solchen Streitkultur vielleicht profitieren, "aber langfristig bedient er damit im Grunde genommen den rechten Rand und stärkt eigentlich die Position der AfD", sagt Deitelhoff.
Viele Studien zeigten laut der Politikwissenschaftlerin: "Wer versucht, sich an die Rechten anzunähern, stärkt deren Lager und nicht die eigene Position." An der Sache hart miteinander zu streiten befürwortet Deitelhoff aber explizit: "Aber wir sollten danach noch in der Lage sein, uns die Hand zu schütteln und miteinander was trinken zu gehen, um es mal so zu sagen. Das ist der Stil, den wir in der politischen Kommunikation aufrechterhalten müssen, wenn wir an einem demokratischen Gemeinwesen interessiert sind."
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