Die schweren Überschwemmungen Ende Mai und Anfang Juni in Bayern befeuern die Debatte über Enteignungen für den Hochwasserschutz. Umweltminister Thorsten Glauber (Freie Wähler) zeigt sich entschlossen, Enteignungen zu erleichtern. CSU-Fraktionschef Klaus Holetschek, der das Thema durch seine Zeit als Bürgermeister in Bad Wörishofen aus der Praxis kennt, wirbt dafür, "dass wir jetzt nicht die Enteignung in den Mittelpunkt stellen". Diese könne im Zweifelsfall auch mal das letzte Instrument sein, müsse aber "wirklich das allerletzte" sein. "Ich bin kein Freund von Enteignungen", betont Holetschek und verweist auf mögliche Konflikte, die ein solcher Schritt in einem Dorf auslöse.
In welchen Fällen sind in Bayern Enteignungen überhaupt möglich? Für welche Bauprojekte und zu welchen Bedingungen? Wie viele Enteignungsfälle gibt es und was konkret will Minister Glauber ändern? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie viele Enteignungen gibt es in Deutschland?
Eine Gesamtzahl der Enteignungen in Deutschland ist nicht bekannt. Die Bundesregierung verweist darauf, dass die einzelnen Verfahren "größtenteils im Verantwortungsbereich der Länder liegen" und ihr kein auswertbares Datenmaterial dazu vorliege.
Zumindest zu den Enteignungsverfahren für den Bau von Autobahnen und Bundesstraßen hat die Bundesregierung auf Anfrage der Linken Zahlen vorgelegt, die auf einer "aktuellen Abfrage bei den Ländern und der Autobahn GmbH des Bundes" beruhen: Im vergangenen Jahr waren es demnach deutschlandweit 139 Verfahren, davon wurden 41 abgeschlossen. In Bayern liefen 2023 insgesamt sieben Enteignungsverfahren für die Bundesstraßen 173, 279, 286 sowie die Autobahnen 3 und 6. Eines dieser Verfahren wurde abgeschlossen.
Für den Hochwasserschutz gab es im Freistaat nach Angaben des bayerischen Umweltministeriums im vergangenen Jahr keinen Enteignungsfall. Das Bauministerium teilt mit, im Zuständigkeitsbereich der Staatlichen Bauämter liefen sieben Enteignungsverfahren - manche von ihnen bereits seit mehreren Jahren.
Der BR fragte bei großen Städten und Landkreisen nach der Zahl der Verfahren: So gab es in München im vergangenen Jahr keinen Enteignungsbeschluss, wie die Enteignungsbehörde mitteilt. Aktuell ist diese mit vier Anträgen auf Enteignung befasst. Es geht um Infrastrukturprojekte - konkrete Details nennt die Behörde aus Datenschutzgründen nicht. Im Landkreis Traunstein wird derzeit das Enteignungsverfahren für den Bau des Aubergtunnels in Altenmarkt abgeschlossen. In Nürnberg laufen zwei Verfahren: für den Ausbau der A6 und den Bau der U3. Im Landkreis Ansbach laufen derzeit sechs Enteignungsverfahren, etwa für den Ausbau der BAB 6 oder Ortsumgehungen. Dagegen gibt es im Landkreis Passau und der Stadt Augsburg derzeit keine Enteignungsverfahren.
Laut dem Münchner Rechtsprofessor Martin Burgi ist es nicht so, "dass manche Länder besonders enteignungsfreundlich und anderer enteignungskritisch wären". In Bayern sei das Netz weitgehend saturiert. "Primär geht es eigentlich um einzelne Ortsumgehungen, Brücken oder ein Bauwerk – also viele kleinere Bedarfe."
Wo sind Enteignungen geregelt?
Die Möglichkeit einer Enteignung ist sogar im Grundgesetz und in der Bayerischen Verfassung verankert. "Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig", steht in Artikel 14 des Grundgesetzes. "Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen." Die Bayerische Verfassung stellt klar, dass eine Enteignung nur "gegen eine angemessene Entschädigung erfolgen" dürfe.
Die konkreten Voraussetzungen und das Vorgehen werden dann in diversen Gesetzen geregelt – auf Bundesebene zum Beispiel im Bundesfernstraßengesetz und dem Baugesetzbuch. Im Freistaat legt im Wesentlichen das Bayerische Gesetz über die entschädigungspflichtige Enteignung (BayEG) die Rechtsgrundlagen fest. Christoph Krönke, Professor für öffentliches Recht an der Universität Bayreuth, erläutert, sowohl Verfahren als auch Voraussetzungen für Enteignungen deckten sich in den Bundesländern im Wesentlichen. "Insofern macht der Ländervergleich da keine großen Unterschiede her."
Aus welchen Gründen darf in Bayern enteignet werden?
Laut BayEG sind Enteignungen für Vorhaben möglich, "die dem Wohl der Allgemeinheit dienen" – zum Beispiel für Bauten der Gesundheits- oder Wohlfahrtspflege, für Schulen oder Hochschulen, für den Bau von Transportleitungen, für Einrichtungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit.
Das Wohl der Allgemeinheit ist laut dem Münchner Rechtsprofessor Martin Burgi "immer dann betroffen, wenn insbesondere zwischen einer notwendigen Infrastruktur und bestimmten Grundstücken ein Zusammenhang besteht". Als Beispiel nennt er den Eisenbahnbau, der in Deutschland ohne Enteignungen niemals möglich gewesen wäre. "Sie hätten ja sonst eine zickzack verlaufende Eisenbahnstrecke." Solle eine Bahn von A nach B fahren, gebe es auf der Strecke immer Grundstücke, die nicht dem Staat gehörten. "Sie müssen enteignen, sonst können sie im Grunde Infrastruktur überhaupt nicht verwirklichen."
Krönke betont, die Enteignung solle die "Ultima Ratio" sein. Nötig sei ein hinreichender, gewichtiger Grund. "Das sind typischerweise Leistungen der Daseinsvorsorge im öffentlichen Interesse" - zum Beispiel Straßen, Verkehrswege, Energieübertragungsleitungen, Hochwasserschutzanlagen. Auch das Umweltministerium verweist darauf, dass Enteignungen immer "nur das letzte Mittel sein" könnten. "Vorrangig setzen die Behörden alles daran, mit den Beteiligten vor Ort eine konsensuale Lösung zu finden. Das gelingt auch regelmäßig."
Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein?
Der gesamte Ablauf muss Burgi zufolge durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geprägt sein: "Zunächst muss man prüfen, ob man überhaupt ein Grundstück X für das Vorhaben zwangsweise braucht." Bei einer Bahnstrecke müsse also geschaut werden, ob sich die Trasse verlegen lasse. "Die zweite Sache: Brauche ich das ganze Grundstück oder reicht nur ein kleiner Teil? Die dritte: Kann ich mich einigen, etwa durch einen Ankauf oder Flächen an anderer Stelle?"
Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gehöre auch, dem Betroffenen ein Angebot zu machen, das betreffende Grundstück auf regulärem Wege zu erwerben, erläutert auch Krönke. "Nur wenn das abgelehnt wird oder es sonst keine vernünftige Aussicht darauf gibt, dass es absehbar auch regulär erworben werden kann, dann wird die Enteignung zulässig."
Gehen Betroffene bei einer Enteignung leer aus?
Nein, der Staat muss eine Entschädigung leisten. "Wenn der Einzelne hier schon ein Sonderopfer für die Allgemeinheit erbringt, dann muss die Allgemeinheit umgekehrt auch etwas für den Einzelnen tun und den Verlust finanziell oder in anderer Weise kompensieren", sagt Krönke. Bei der Höhe der Entschädigung spielt laut Burgi der Verkehrswert die maßgebliche Rolle. "Das ist also auch eigentlich eine relativ vorteilhafte Gestaltung für die betroffenen Grundstückseigentümer."
Ermittelt wird dieser Verkehrswert eines Grundstücks von der jeweils zuständigen Landesbehörde im Einzelfall durch ein Verkehrswertgutachten, wie die Bundesregierung auf Anfrage der Linken kürzlich mitteilte.
Wie läuft ein Enteignungsverfahren ab?
Der Ablauf eines Enteignungsverfahrens wird laut Umweltministerium grundsätzlich durch das Bayerische Gesetz über die entschädigungspflichtige Enteignung bestimmt. "Nach entsprechender Antragstellung wirkt die zuständige Kreisverwaltungsbehörde als Enteignungsbehörde zunächst darauf hin, die widerstreitenden Interessen der Beteiligten zu einem befriedigenden Ausgleich zu führen und eine Einigung herbeizuführen."
Wenn eine Einigung nicht möglich sei, werde über eine Enteignung entschieden - und gleichzeitig der Umfang der Entschädigung festgelegt. Im Rahmen des Verfahrens komme auch der Gutachterausschuss zusammen.
Was will Glauber ändern?
Umweltminister Thorsten Glauber kündigte vergangene Woche im Umweltausschuss des Landtags an, Enteignungen durch eine Änderung des Wassergesetzes erleichtern zu wollen. Geplant ist - so das Umweltministerium auf BR-Anfrage -, "in das Bayerische Wassergesetz eine Regelung aufzunehmen, die festschreibt, dass Maßnahmen des Hochwasserschutzes im überragenden öffentlichen Interesse liegen". Dadurch bekäme der Hochwasserschutz den Angaben zufolge gegenüber konkurrierenden Belangen in behördlichen Abwägungen ein noch stärkeres Gewicht. "Das gilt auch für sich möglicherweise anschließende gerichtliche Verfahren."
Nach Auffassung von Burgi ist der Rechtsrahmen "eigentlich nicht das Problem", zusätzliche Vorschriften in großem Stil seien nicht nötig. Vielmehr gehe es darum, den Rechtsrahmen schneller und konsequenter anzuwenden.
Minister Glauber zeigt sich im BR-Interview überzeugt, dass allein schon eine drohende Enteignung die Verhandlungen mit dem Grundstückseigentümer beschleunigen kann: "Mit der sogenannten Beantragung der Enteignung beim jeweiligen Landratsamt merkt man auch, dass die Gesprächsbereitschaft plötzlich wieder zurückkehrt."
Im Video: Minister Glauber im Interview
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