"Zurke" – so klingt das rumänische Wort für einen langweiligen, müden Kick. Mit einem Seufzer entweicht es der 86 Jahre alten Hannelore Lahni in der 27. Minute beim EM-Auftaktspiel der Rumänen gegen die Ukraine. Keine zwei Minuten später steht es 1:0 und die "Oma-Public-Viewing-Runde" im Würzburger Stadtteil Heuchelhof explodiert förmlich auf dem Sofa. Allen voran Hannelores Tochter Ute. Als großer Fußball-Fan hat ihre Mutter, ihre Schwiegermutter und ihre Freundin Hermine zum Fußball kucken eingeladen. Der Sofatisch steht voll mit Eierlikör, Zwetschgenschnaps, Salzstangen und Kuchen. Das meiste davon selbstgemacht. So gehe deutsch-rumänische Gastfreundlichkeit, sagt Ute.
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Ute Badoi-Lahni kam 1988 aus Siebenbürgen in Rumänien nach Würzburg. Dort im Stadtteil Heuchelhof kennt sie inzwischen jeder. Sport ist ihre Leidenschaft. Zum Auftakt der Rumänen in die Europameisterschaft hat BR-Korrespondent Christoph Schneider sie begleitet. Eine BR24 vor Ort-Reportage, zu sehen im folgenden Video:
Siebenbürgen: Als Deutsche in Rumänien
Ute Badoi-Lahni kommt eigentlich aus Siebenbürgen, einem Gebiet im Zentrum von Rumänien. Im 12. Jahrhundert siedelten sich dort Menschen aus dem deutschen Reich an, also mit deutscher Nationalität. Siebenbürgen ist auch als Transsilvanien bekannt. Berühmte Persönlichkeiten: Dracula und Peter Maffay. Letzterer wohnte in Kronstadt sogar im gleichen Viertel wie Ute, war quasi ihr Nachbar. Aufgewachsen im Kommunismus erlebte sie keine Kindheit im Überfluss, schlecht ging es ihr aber nicht. Rumänisch lernte sie erst in der Schule, zu Hause sprach die Familie Deutsch. 1988 wanderte sie nach Deutschland aus.
Ute Badoi-Lahni lebt seit knapp 40 Jahren in Würzburg
An ihre Ankunft in Deutschland erinnert sich Utes Mutter Hannelore noch gut. "Die Deutschen waren schon kalt. Ich war 52, alt, Frau und man nannte mich 'die Ausländerin'. Aber ich habe mich durchgesetzt." Hannelore, Ute und die Familie leben seit fast 40 Jahren auf dem Heuchelhof, auf einer Anhöhe südlich von Würzburg.
Stadtteil Heuchelhof: Hochhäuser und ein schlechtes Image
Erst Anfang der 1970er wurde der Würzburger Stadtteil gebaut, mit vielen Sozialwohnungen in Betonblock-Bauweise. Die Hochhäuser prägen das Bild des Heuchelhofs – und sind von weither sichtbar. Nach dem Mauerfall kamen viele Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion hierher. Zwei Drittel von ihnen haben einen Migrationshintergrund – mit Abstand der höchste Wert in allen Würzburger Stadtteilen. Die meisten kommen aus Russland, Kasachstan und Rumänien. Soziale Spannungen und Vandalismus verschafften dem Heuchelhof in den 90ern ein schlechtes Image.
"Heuchelhof-Oma": Ute kümmert sich um Mitmenschen
Ute scheint viel von ihrer Mutter geerbt zu haben, denn sie setzt sich sehr für die Menschen am Heuchelhof ein: Sie hilft am Marktstand, kümmert sich um ältere Menschen und ist ehrenamtlich im Bürgerverein. In ihrem Viertel ist sie so etwas wie die "Heuchelhof-Oma". "Ich kann nicht anders. Ich bin so groß geworden in Rumänien, dass man sich gegenseitig helfen muss. Als ich nach Deutschland gekommen bin, war das für mich ein Schock, weil jeder für sich war. Bis ich gesagt habe: Nein, wir müssen alle zusammenhalten", beschreibt Ute.
Heimweh nach Rumänien verspürt Ute nicht, sagt sie. Sie sei überall auf der Welt zu Hause und momentan sei das eben Deutschland.
Quartiersmanagerin: Heuchelhof ist besser als sein Ruf
Durch ihr Engagement hat sich Ute Badoi-Lahni über die Jahre auch mit Hermine Seelmann angefreundet, der städtischen Quartiersmanagerin. Ute bezeichnet sie liebevoll als "Bürgermeisterin vom Heuchelhof". Auch Hermine Seelmann findet den Heuchelhof besser als seinen Ruf. "Es hat etwas Dörfliches. Es gibt alles, was man braucht und man geht aufeinander zu." Es gebe zwar viele verschiedene Nationen. Aber sie spüre, dass alle friedlich mit- und nebeneinander leben wollen.
Ute hat "typisch rumänische" und "typisch deutsche" Eigenschaften
Was ist nun "typisch rumänisch" und was "typisch deutsch"? Mit Stereotypen muss man vorsichtig sein. Doch wenn man sich Ute mit einem Augenzwinkern anschaut, könnte man sagen: Geht es um Pragmatismus und Geradlinigkeit – dann sind das die "typisch deutschen" Charakterzüge von Ute. "Typisch rumänisch" ist sie in Sachen Offenheit, Herzlichkeit und Gastfreundschaft. "Der Rumäne gibt alles, lieber hat er selbst nichts. Wenn jemand kommt, wird aufgetischt."
Leidenschaft für Eierlikör und Eiweiß-Kuchen
Zum EM-Spiel bäckt sie mit ihrer Mutter einen Eiweiß-Kuchen, den alle in der Familie lieben. Hinein kommt das Eiweiß von sieben Eiern – das übrige Eigelb wird zu Eierlikör verarbeitet. Beides landet auf dem Tisch vor dem Fernseher, dazu noch selbstgebackene Salzstangen. "Prost" sollte man beim Anstoßen allerdings nicht sagen, denn das bedeutet übersetzt "blöd" auf Rumänisch. Besser funktioniert "Noroc!".
300 Schweinefiguren sollen Rumänien Glück bringen
Eine große Leidenschaft von Ute Badoi-Lahni sind Schweine, vorzugsweise in Miniaturform. Als sie 1988 in Deutschland ankam, schenkte ihr ihre beste Freundin eine Tafel Schokolade und ein kleines Glücksschwein. Seitdem sammelt sie Schweinefiguren – über 300 Stück hat sie. Je wertvoller, desto prominenter ihr Platz in der Wohnung. Einmal im Jahr ist Waschtag, dann kommen alle in die Spülmaschine. Bis dahin sollen sie aber der rumänischen Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft genauso viel Glück bringen, wie im ersten Spiel gegen die Ukraine.
Würzburg ist Gastgeber für rumänische Nationalmannschaft
Würzburg ist zwar keine Spielstätte der diesjährigen Europameisterschaft. Aber das Nationalteam aus Rumänien ist in Würzburg in einem Hotel am Hubland untergebracht und trainiert auch im Stadion der Würzburger Kickers. An vielen Stellen in der Stadt wehen blau-gelb-rote Fahnen, die rumänische Trikolore. Am Mainufer stehen zum Beispiel große Banner, die auf den Aufenthalt der rumänischen Mannschaft in Würzburg hinweisen – und das Team grüßen.
Stadt hofft auf Euphorie wie 2006, als das Team aus Ghana hier war
Schon bei der Weltmeisterschaft im Jahr 2006 war Würzburg Gastgeber für ein internationales Team, damals für Ghana. Die Stadt hofft, dass die Euphorie von damals auch bei diesem Turnier aufkommt. Würzburgs Bürgermeisterin Judith Roth-Jörg, die unter anderem das Referat Sport leitet: "Es wäre natürlich großartig, wenn wir sportlich und atmosphärisch an dieses besondere Turnier anknüpfen könnten."
Dass die Hoffnung darauf nicht unbegründet ist, liegt an der Zahl der Menschen mit rumänischer Staatsbürgerschaft. Mit über 200.000 Menschen ist sie – laut dem Bayerischen Landesamt für Statistik – die größte Gruppe von ausländischen Personen im Freistaat, noch vor Menschen aus der Türkei oder der Ukraine.
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