Am 22. Februar 2022 hatten sich Klimaaktivisten auf dem Frankenschnellweg in Nürnberg festgeklebt, um gegen Lebensmittelverschwendung zu protestieren. BR24 hatte über die Aktion berichtet, unter anderem mit einem Video auf YouTube. Unter dieses Video schrieb der Angeklagte aus dem Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen: "Einfach drüber fahren, selbst schuld, wenn man so blöd is und sich auf die Straße klebt" (Schreibfehler im Original).
Für diesen Satz hatte das Amtsgericht Weißenburg den Mann gut ein Jahr später zu einer Geldstrafe verurteilt. Er sollte wegen Billigens von Straftaten 40 Tagessätze zahlen – insgesamt 2.000 Euro.
Kommentar von Meinungsfreiheit gedeckt
Das Landgericht Ansbach hingegen sprach den Angeklagten im November 2023 frei, und das Bayerische Oberste Landesgericht folgte heute diesem Urteil. Der Senat verwarf die Revision der Generalstaatsanwaltschaft München. Aus Sicht der Richter ist der Satz von der Meinungsfreiheit gedeckt – gerade noch so.
Ausschlaggebend seien die Äußerungen des Mannes in der Verhandlung am Landgericht Ansbach. Dort hatte er unter anderem erklärt, sein Kommentar unter dem BR24-Video sei überspitzt gewesen. Er habe niemanden zu einer Straftat auffordern wollen und sei davon ausgegangen, dass niemand seinen Kommentar ernst nehme.
Revision: Keine Zeugen, nur rechtliche Begründung
Ob er die Äußerung tatsächlich aufrichtig bedauert, konnte das Bayerische Oberste Landesgericht nicht selbst überprüfen. In einer Revisionsverhandlung ist ein Angeklagter üblicherweise nicht mit dabei, denn es werden keine Zeugen mehr vernommen oder Beweise gesichtet.
Es geht lediglich um die rechtliche Beurteilung und die Begründung eines Urteils. Nur ein Staatsanwalt und ein Verteidiger sind dabei und erklären, wie sie den Fall rechtlich beurteilen.
Leser könnten Kommentar ernst nehmen
Für Oberstaatsanwalt Hummer von der Generalstaatsanwaltschaft München steht das Recht auf freie Meinungsäußerung dem Recht der Klimaaktivisten auf körperliche Unversehrtheit entgegen. Außerdem fragt er: Wie wirkt der Kommentar auf den Empfänger, die Öffentlichkeit?
Der Kommentator habe es vielleicht nicht ernst gemeint – Leser könnten die Äußerung aber dennoch ernst nehmen, meint Hummer. Der Kommentar sei ein Aufruf zur Gewalt und störe den öffentlichen Frieden.
Verteidigung: Keine Aufforderung zum Töten
Der Verteidiger des Angeklagten, Wolfgang Staudinger, sieht das anders. Der Kommentar sei von der Meinungsfreiheit gedeckt und müsse ausgehalten werden, auch wenn Leser anderer Meinung seien. Den öffentlichen Frieden sieht er nicht gestört.
Und "drüber fahren" heiße nicht, dass sein Mandant andere dazu auffordere, einen der Klimaaktivisten zu töten – ein Autofahrer könne sich auch entscheiden, einem der Demonstranten über eine Hand zu fahren, so Staudinger. Dann hätte er sich der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht.
Senat: Kommentar ist Grenzfall
Nach einer kurzen Beratung urteilte das Bayerische Oberste Landesgericht: Die Revision wird verworfen. Der Vorsitzende des Senats erklärte, der Kommentar des Users sei ein Grenzfall. Man fühle sich aber dem Urteil des Landgerichts Ansbach verpflichtet, dass dem Angeklagten sein ausdrückliches Bedauern über die zugespitzte Formulierung glaubte.
Auch Volksverhetzung konnte der Senat in der Äußerung nicht erkennen. Die Klimaaktivisten seien mit keiner gesellschaftlichen Gruppierung gleichzusetzen, die durch Äußerungen verächtlich gemacht werden könne.
Urteil "kein Freifahrtschein"
Der Vorsitzende Richter warnte aber: Die Entscheidung des Senats sei "kein Freifahrtschein, dass man im Internet jetzt fordern kann, jemanden einen Kopf kürzer zu machen oder über jemanden einfach drüberzufahren". In diesem Fall aber wiege das Recht auf freie Meinungsäußerung etwas schwerer. Damit bleibt es bei dem Freispruch durch das Landgericht Ansbach. Weitere Rechtsmittel sind nicht mehr möglich.
IT-Fachanwalt: "Die Rechtssprechung muss sich entwickeln"
Der Würzburger Fachanwalt für IT-Recht, Chan-jo Jun, fürchtet, dass das Urteil aus Nürnberg ein falsches Signal senden könnte – gerade in einem rauhen politischen Umfeld. "Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Gleichzeitig sehen wir aber auch, dass durch Gewaltaufrufe Politik gemacht wird", so Jun. Manche würden versuchen, sich mit Stimmungsmache und Hetze Gehör zu verschaffen.
Grundsätzlich sagt er, dass sich die Rechtssprechung noch weiterentwickeln müsste – vor allem was das Vorgehen gegen derartige Straftaten angeht. Zwar sei der aktuelle Fall abgeschlossen, doch er könnte sich vorstellen, dass andere Gerichte bei ähnlichen Fällen zu unterschiedlichen Urteilen kommen könnten.
Im Video: Über Aktivisten "drüberfahren": Gericht spricht Kommentator frei
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