Wie zum Gebet faltet Jennifer W. ihre Hände. Ihre Haare trägt sie offen, hilfesuchend schaut sie zu ihren Anwälten. Soeben hat sie das Oberlandesgericht München zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt.
Gericht befindet Mitschuld von Jennifer W. an Tod von Mädchen
Als wenig später Verteidiger Ali Aydin vor die Presse tritt, stellt er gleich fest, dass es schlimmer hätte kommen können. Bundesanwaltschaft und Nebenklage hatten lebenslänglich gefordert. Zehn Jahre oder lebenslänglich, das sei ein gewichtiger Unterschied, sagt Aydin. Drei Jahre habe seine Mandantin bereits in der Untersuchungshaft abgesessen: "Alleine die Tatsache, dass hier den Vorstellungen der Bundesanwaltschaft eine Abfuhr erteilt wurde, ist erstmal ein Grund für uns zu lächeln."
Lebt das Kind doch noch?
Es ist nicht Aydins erste Begegnung mit der Bundesanwaltschaft. Immer wieder hat er in den vergangenen Jahren die Ex-Angehörige der Terrormiliz IS verteidigt. "Die Bundesanwaltschaft ist sich nicht zu schade, um bei Verfahren dieser Art eine Beweiswürdigung vorzunehmen, die kein Mensch mehr versteht", sagt Aydin. Ihm und seiner Kollegin Seda Basay-Yildiz sei es wichtig gewesen "die subjektive Schuld der Angeklagten herauszuarbeiten – und sie nicht für das verantwortlich zu machen, was der IS den Jesiden zweifellos angetan hat".
Die Verteidiger sind weiterhin davon überzeugt, dass das Kind noch am Leben sein könnte, da seine Leiche bisher nicht gefunden wurde. Hinweisen sei das Gericht nicht ausreichend nachgegangen, hatten die Anwälte in ihrem Plädoyer kritisiert. Sie hatten deshalb eine Haftstrafe von zwei Jahren beantragt, weil sie nur den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung als erwiesen ansehen.
Zweieinhalb Jahre IS-Prozess
Zweieinhalb Jahre hatte das Münchner Oberlandesgericht Beweise gesammelt, um ein wohlüberlegtes Urteil zu fällen. Die Sammlung dieser Beweise schien für Prozessbeobachter manchmal etwas zäh und langwierig, war aber angesichts der massiven Vorwürfe notwendig.
2014 war die Angeklagte Jennifer W. zum sogenannten Islamischen Staat ausgereist und heiratete dort nach islamischem Ritus. Gemeinsam mit ihrem Ehemann wohnte sie im Sommer 2015 im irakischen Falludscha. Zum gemeinsamen Haushalt gehörten auch eine Jesidin und deren fünfjährige Tochter. Der IS hatte Mutter und Kind versklavt. Der Ehemann der Angeklagten nutzte die Sklaven schamlos aus, bestrafte sie regelmäßig mit Schlägen. Und dann passierte nach Überzeugung des Gerichts die Tat, die auch das Leben von Jennifer W. für immer verändern sollte – als das Mädchen bei größter Hitze im Freien angebunden wurde.
"Das Gericht ist davon überzeugt, dass das im Haushalt lebende Kind eingenässt hatte, dass es deswegen vom Ehemann nach islamischem Recht bestraft wurde – und zwar in der Weise, dass das Kind in der Mittagszeit im Hof an ein Fenster gekettet worden ist – mit Elektrokabeln bzw. eben mit Bändern", schildert Gerichtssprecher Florian Gliwitzky.
Das Gericht geht davon aus, dass das Mädchen diese Tortur nicht überlebte und verdurstete. Die Angeklagte habe nichts unternommen, um das Kind zu retten. In seinem Urteil spricht das Oberlandesgericht unter anderem von mitgliedschaftlicher Betätigung in einer terroristischen Vereinigung und einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Todesfolge.
Die Abrechnung der IS-Rückkehrerin
Mit dem Gericht und der Bundesanwaltschaft hatte die Angeklagte zuletzt abgerechnet: "Der viel zitierte Satz 'Im Zweifel für den Angeklagten' kam in meinem Fall nicht zum Tragen." An ihr solle offenbar ein Exempel für alles Unrecht statuiert werden, das unter der Terrororganisation Islamischer Staat geschehen sei. Für den Rest ihres Lebens sei sie mit dem Stigma Mörderin behaftet. Dabei sei ihr Ehemann der Hauptschuldige. Gegen ihn habe sie nichts ausrichten können als Frau im totalitären und von Männern geprägten System IS.
Ob seine Mandantin nun Revision einlegt, konnte Verteidiger Ali Aydin noch nicht sagen.
Bundesanwaltschaft: Es geht nicht um Sieg oder Niederlage
Die Bundesanwaltschaft jedenfalls kann mit dem Urteil leben. "In so einem Verfahren geht es nicht um Sieg oder Niederlage. Hier geht es darum, die Schuld einer Angeklagten festzustellen", erklärt die Vertreterin der Bundesanwaltschaft, Oberstaatsanwältin Claudia Gorf. "Für mich ist vor allem entscheidend, dass eine Tat, von der niemand mehr geglaubt hat, dass sie noch aufgeklärt wird, heute in einem strafrechtlichen Verfahren aufgeklärt wurde." Die Angeklagte sei für den Tod eines Kindes in einem fernen Bürgerkriegsland vor vielen Jahren schuldig gesprochen worden.
Nebenklage: Urteil eine Genugtuung
Ähnlich äußern sich nach der Urteilsverkündung auch die Anwälte der Nebenklage. Anwältin Natalie von Wistinghausen vertritt gemeinsam mit zwei anderen Kollegen die Mutter des getöteten Mädchens. Das Gericht hatte die Mutter mehrere Tage lang intensiv befragt. Zum Urteil sitzt sie wieder im Saal und hört die Worte des Richters. Vor der Presse gibt Anwältin von Wistinghausen zu verstehen, dass sich die Arbeit gelohnt hat.
Für ihre Mandantin sei der heutige Tag kein leichter gewesen, viele Bilder seien zurückgekommen: "Nichtsdestotrotz sagt sie auch, dass es für sie eine Genugtuung ist, dass sie jetzt nach sechs Jahren jedenfalls eine Feststellung hat, wer für den Tod ihrer Tochter mitverantwortlich ist. Das berührt sie sehr, dass sich ein deutsches Gericht damit befasst und solche Feststellungen treffen kann."
Und dann betont Wistinghausen noch, wie wichtig das Urteil für die gesamte jesidische Community sei – der weltweit erste Prozess im Zusammenhang mit dem Genozid an den Jesiden.
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