Wo ist der richtige Platz für die Fünfjährige aus dem Landkreis Dillingen: Im Heim? Oder bei den Pflegeeltern? Monatelang hat das Eilverfahren gedauert. Die Entscheidung lautet: Das Mädchen bleibt im Heim. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Das Hauptsacheverfahren läuft – Ausgang ungewiss. Bis zu einer endgültigen Entscheidung wird es dauern. Es ist ein Fall, der Fragen aufwirft. Und bei dem von Anfang an vieles anders gelaufen ist, als es hätte laufen können.
Nach Misshandlung: Wenige Monate altes Baby kommt ins Heim
Ein Kind wird im Säuglingsalter zwei Mal in kurzer Abfolge hintereinander schwerst misshandelt. Der Täter wird im Familienkreis vermutet, jedoch nie gefunden. Das Ermittlungsverfahren wird eingestellt. Das Jugendamt reagiert, das Kind kommt in ein Heim. Die Mutter ist einverstanden. Deshalb behält sie auch das Sorgerecht. Das Familiengericht hat das Dillinger Jugendamt damals nicht eingeschaltet.
Sorgerecht bleibt bei der Mutter
Der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert, ärztlicher Direktor der Uniklinik in Ulm, kennt viele solche Fälle. Mit der Entscheidung, den Eltern das Sorgerecht zu lassen, könne man in der Akutsituation oft Konflikte lösen, habe dann aber "die Zeitbomben für später".
Eine gerichtliche Entscheidung hätte Klarheit für die Zukunft schaffen können. Und sie hätte dem Kind Stabilität gebracht, ein wichtiger Faktor. Laut dem bundesweit bekannten Familienrechtler Professor Ludwig Salgo zeigt das auch die Pflegekind-Forschung. Die Stabilität einer "etablierten Bindung zu feinfühligen, sozialen Elternpersonen" stelle "einen bedeutsamen Schutzfaktor für die weitere Entwicklung des Pflegekindes dar".
Vom Heim in die Pflegefamilie und zurück ins Heim
Zurück zum Fall: Nach etwas über einem Jahr im Heim findet das Jugendamt eine Pflegefamilie für das inzwischen 15 Monate alte Kind. Die Pflegeeltern schaffen es, dass das Kind zu einem fröhlichen - trotz der Misshandlung im Säuglingsalter - unauffälligen Mädchen heranwächst. Das sieht auch das Jugendamt in seinen jährlichen Stellungnahmen so.
Im Spätsommer 2022 dann ändert die sorgeberechtigte Mutter ihre Meinung: Sie möchte nicht mehr, dass ihre Tochter bei den Pflegeeltern bleibt. Das Jugendamt reagiert schnell, nimmt das Kind ohne vorherige Ankündigung aus der Pflegefamilie und bringt es wieder in das Kinderheim, wo es die ersten Lebensmonate auch verbracht hat.
Augenzeugen zufolge hat das Mädchen bei der Trennung von den Pflegeeltern geweint und geschrien, seine Pflegeschwester sowie die Pflegeeltern sind entsetzt und können die Vorgehensweise nicht nachvollziehen.
Stabilität wichtig für Kindeswohl
Professor Ludwig Salgo führt dazu eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an: Wenn die leiblichen Eltern einen Wechsel der Pflegestelle wünschen, aber das Kind nicht selbst aufnehmen wollten oder könnten, habe dieser Wunsch ein weit geringeres Gewicht.
Im Vordergrund müsse immer der Schutz des Kindes und dessen Wohl stehen. Das, so der Anwalt der Pflegeeltern, Andreas Woidich aus Fürth, habe er vor Gericht angeführt. Diesem Urteil zufolge müsse geprüft werden, welche Tragweite die Trennung des Kindes von der Pflegeperson für das Kindeswohl haben könnte. Die Wiedervereinigung mit den leiblichen Eltern habe unterdessen nicht mehr absolute Priorität.
Nach langen Diskussionen gelte inzwischen unter Experten die einhellige Meinung: Wenn es nicht gelänge, ein Kind unter drei Jahren innerhalb eines Jahres, ein Kind über drei Jahre innerhalb von zwei Jahren, wieder bei seinen leiblichen Eltern unterzubringen, sollte der Aufenthalt des Kindes stabilisiert werden, so Professor Salgo. Je öfter die Bezugspersonen wechselten, umso weniger Vertrauen werde das Kind in menschliche Bindungen haben.
Kritik am Vorgehen des Jugendamts
Die Unterbringung bei der Pflegefamilie, so der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert, in einer "Hauruck-Aktion" dramatisch zu beenden, das gehe "wirklich sehr, sehr wenig von der Perspektive des Kindeswohls und des Kindes aus", so seine Einschätzung, auch wenn er mit dem Fall nicht direkt vertraut sei.
Die Vorgehensweise des Dillinger Jugendamts irritiert offenbar auch andere Jugendämter: Nach der Berichterstattung auf BR24 über den Fall habe er entsprechende Zuschriften bekommen, so der Anwalt der Pflegeeltern, Andreas Woidich. Er zitiert aus der Mail einer Jugendamtsmitarbeiterin: "Eine solche Rückführung ohne Anbahnung und sorgfältige Vorbereitung stellt meines Erachtens eine weitere Kindeswohlgefährdung dar. Sie widerspricht jeglichen Leitlinien des Pflegekinderwesens."
Pflegeeltern schalten Gericht ein
Im Fall des Pflegekindes im Landkreis Dillingen wollen die Pflegeeltern auf gerichtlichem Weg versuchen, die inzwischen Fünfjährige zurückzubekommen. Das Mädchen frage bei Besuchen immer wieder, wann sie zu ihnen zurück könne, zu ihnen, zu ihrer Pflegeschwester und ihrem Pony, so die Pflegemutter.
Als sie den Eilantrag beim Gericht stellen, ist das Kind schon einige Wochen im Heim. Die Pflegeeltern hatten vorher auf eine Einigung in einem Gespräch mit dem Jugendamt gehofft. Das Gespräch aber fand nicht statt. Ihren Eilantrag lehnt der erfahrene Familienrichter am Dillinger Amtsgericht ab. Da das Kind offenbar keine Auffälligkeiten zeige, schloss der Richter, das Kindeswohl sei durch die erfolgte Maßnahme nicht beeinträchtigt worden. Das Mädchen bleibt also im Heim.
Der Anwalt der Pflegeeltern Andreas Woidich aus Fürth verweist im Verfahren auf die entsprechenden bundesverfassungsgerichtlichen Urteile und legt anschließend Beschwerde beim Oberlandesgericht ein – mit Erfolg: Der Richter hatte das Kind nicht befragt.
Dabei sieht das Gesetz das vor, damit sich der Richter einen persönlichen Eindruck vom Kind verschaffen kann. Auch einen Verfahrensbeistand hätte er bestellen müssen. Der Dillinger Familienrichter holt das nach, bei seiner Entscheidung bleibt er. Das Kind soll im Heim bleiben. Dort befindet es sich nunmehr seit etwas über einem halben Jahr.
Psychiater: Kinder arrangieren sich mit der Situation
Dass das Kind in der jetzigen Situation im Kinderheim keine Auffälligkeiten zeige, sei nicht verwunderlich, meint der Kinderpsychiater Jörg Fegert. In der Regel arrangierten sich Kinder mit ihrer Situation. Das ändere aber nichts daran, dass die ganz zentrale Bindung des Kindes die zur Pflegefamilie sei. Diese sei massiv gestört worden.
Aus Fegerts Sicht sei schon das "eine amtliche Gefährdung des Kindeswohls". In der Regel sei ein Kind in diesem Alter in einer Pflegefamilie besser aufgehoben als im Heim, so Fegert und Salgo übereinstimmend.
Unterdessen läuft bereits das Hauptsacheverfahren. Im Zuge dessen soll ein Gutachter sich das Mädchen genau anschauen. Doch das wird dauern. Monate im Leben eines Kindes, die prägend sind.
Jugendamt prüft mögliche Rückkehr zu leiblichen Eltern
Die Zukunft des Mädchens indes ist ungewiss: Das Jugendamt will prüfen, ob das Mädchen zu seinen leiblichen Eltern zurück kann. Bis das entschieden ist, sei es für das Mädchen besser, diese Zeit im Heim und damit einer neutralen Umgebung zu verbringen, so die Begründung vonseiten des Jugendamts.
Die Begleitung und Überprüfung der Eltern befürwortet auch Kinderpsychiater Fegert. Allerdings kritisiert er die Vorgehensweise des Jugendamts: Das Kind herauszureißen, aus der gewohnten Umgebung, und erst danach mit der Prüfung zu beginnen, das sei nicht nachvollziehbar. Mit dem Fall konfrontiert, schlussfolgert er, in der Pflegefamilie seien offensichtlich Beziehungen entstanden, das Kind habe – was ja auch das Jugendamt bestätigt – eine gute Entwicklung gemacht.
In Fällen wie diesem, in denen ein Kind misshandelt wurde und die Eltern dazu keine Erklärung liefern könnten, stelle das Bundesverfassungsgericht besonders hohe Anforderungen und "ein hohes Maß an Prognosesicherheit", dass es zu keiner erneuten Misshandlung komme, so Professor Salgo.
Verfahren dauert - Zeit schafft Fakten
Inzwischen hat der Anwalt der Pflegeeltern Andreas Woidich erneut Beschwerde gegen die Entscheidung im Eilverfahren eingelegt - eben weil es bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren noch dauern wird. Der Zeitfaktor, so Psychiater Fegert, sei hier von großer Bedeutung: Verstreiche zu viel Zeit, würden unter Umständen Tatsachen geschaffen, sodass man in vielen Fällen kaum mehr in den vorherigen Zustand zurückgehen könne.
Sinnvoll wäre es aus seiner Sicht, sich zur Nachbearbeitung zusammenzusetzen, um aus den Fehlern zu lernen. Solche Konstellationen gebe es bei Pflegekindern immer wieder. Man müsse wohl die Praxis sowohl in der Jugendhilfe als auch beim Familiengericht nochmals reflektieren. Aufgrund der Komplexität familiengerichtlicher Verfahren begrüßt sowohl Psychiater Fegert also auch Familienrechtler Salgo die erst seit Januar 2023 geltende Fortbildungspflicht für Familienrichter.
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