Die Menge jubelt und applaudiert. Von Blasmusik begleitet läuft Hubert Aiwanger an voll besetzten Biertischen vorbei. Er schüttelt Hände, klopft auch mal einem Besucher kumpelhaft auf die Schulter. Am Ende steigt Aiwanger lächelnd auf eine Bierbank und winkt der Menge zu. Das Karpfhamer Fest im niederbayerischen Bad Griesbach ist ein Heimspiel für ihn. "Hubert, Hubert" rufen seine Anhänger und Fans.
Und das zu einem Zeitpunkt, als die Flugblatt-Affäre gerade auf ihren Höhepunkt zusteuert. Es ist der 1. September 2023 und der Freie-Wähler-Chef steht seit Tagen unter Druck. Er soll nun Ministerpräsident Markus Söder 25 Fragen zu dem antisemitischen Flugblatt aus den 80er Jahren beantworten, das in seiner Jugend in seinem Schulranzen gefunden wurde. Und das zeitnah, am besten noch an diesem Tag. Die Antworten liefern Söder die Entscheidungsgrundlage: Feuert er seinen Vize oder belässt er ihn im Amt?
Flugblatt-Affäre: Aiwanger sieht "Schmutzkampagne"
Im Bierzelt gibt sich Aiwanger trotz Allem entspannt: Er arbeite an der Beantwortung der Fragen, sagt er den Journalisten und bedankt sich dann auf der Bühne bei der jubelnden Menge "für diesen wunderbaren Empfang". Er habe in seiner Jugend "Scheiß" gemacht. "Das Flugblatt war scheußlich, das ist nicht wegzudiskutieren", sagt Aiwanger.
Dann geht er in die Offensive über. Er beklagt eine politische Kampagne, die ihn persönlich und politisch vernichten solle. Anschließend macht Aiwanger Wahlkampf wie gewohnt. In weißem Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, legt er auf der Bühne los und liefert, was von ihm erwartet wird. Er kritisiert das Heizungsgesetz, die Grünen und die Ampel-Regierung im Allgemeinen. Lob gibt es für Landwirte, Handwerker und überhaupt alle, die fleißig arbeiten.
Söders Entscheidung: Aiwanger darf bleiben
Bei den Leuten kommt das gut an. "Der Hubert soll sich nicht unterkriegen lassen und soll es den Großkopferten in Berlin zeigen", sagt eine Frau im Dirndl. Aiwanger setze sich für die Landbevölkerung ein. Auf die schaue sonst keiner mehr. Eine andere sagt: "Es kann nicht sein, dass man für Kindheitssachen bestraft wird." Da dürfte eigentlich kein Politiker mehr im Amt sein. Eine Sauerei sei das.
Zwei Tage später tritt Ministerpräsident Markus Söders vor die Presse und verkündet seine Entscheidung. Eine Entlassung wäre "unverhältnismäßig". Er begründet das Ergebnis damit, dass es keine Beweise dafür gebe, dass Aiwanger das antisemitische Flugblatt verfasst oder verbreitet habe. Noch dazu sei der Vorfall 35 Jahre her und seitdem sei nichts Vergleichbares bekannt geworden. Aiwanger habe in seiner Jugend wohl schwere Fehler gemacht und das auch eingestanden. Aiwangers Entschuldigung sei "spät", aber "nicht zu spät" gekommen.
Zusage für die Freien Wähler, Absage an die Grünen
Söder spricht sich dabei auch für eine Fortsetzung der Koalition mit den Freien Wählern aus. Auf die Frage, ob er das Bündnis auch nach der bayerischen Landtagswahl fortsetze und ob dann auch Aiwanger einem möglichen Kabinett angehöre, sagt Söder im ZDF-Sommerinterview: "Ich gehe da fest davon aus." Gleichzeitig teilt er Schwarz-Grün in Bayern erneut eine Absage.
Die eigene Partei, die Freien Wähler, stehen hinter Aiwanger – auch in der Flugblatt-Affäre. Einzig an seinem Krisenmanagement gibt es Kritik. Ansonsten: geschlossene Rückendeckung. Er sei kein Antisemit, sagen seine Parteifreunde und sprechen von einer "Schmutzkampagne" gegen Aiwanger und die Freien Wähler.
Aiwanger schweigt und kämpft
Und Aiwanger selbst? Der äußert sich so wenig wie möglich zu den Vorwürfen und macht weiter Wahlkampf. Er tingelt mit den immer gleichen Themen von Bierzelt zu Bierzelt. Aiwanger lobt die Bauern, die "für unsere Lebensmittel sorgen", und bekennt sich zum Fleischkonsum. Er fordert Steuerentlastungen, plädiert für die Abschaffung der Erbschaftssteuer und sagt, man dürfe den Leuten am Land das Autofahren nicht verbieten.
Applaus und "Hubert, Hubert"-Rufe erntet er vor allem für Kritik an den Grünen und dem Heizungsgesetz: "Schon die Neandertaler haben gewusst, dass die Höhle warm wird, wenn sie mit Holz einheizen. Aber die Ampel-Leute in Berlin wissen das bis heute nicht." Am Ende minutenlanger Applaus. Dafür, "dass er sagt, was die normalen Leute denken".
Aiwanger: Volksheld oder Populist?
Aiwanger, der Mann des Volkes, ein Fürsprecher für die "kleinen Leute". Ein Image, das nur deswegen funktioniert, weil er sich gerne als einer von ihnen präsentiert. Bis heute lebt der Vize-Regierungschef auf einem Hof in Rahstorf, einem Ortsteil der Stadt Rottenburg an der Laaber im Landkreis Landshut. Da ist er aufgewachsen, hat schon als Kind im Stall geholfen. Er studierte Agrarwissenschaften und wurde Schweinebauer. Sieben Jahre lang war er Vorsitzender der Landjugend.
Kampf gegen die Großstadteliten
Gerne betont er, dass er "schon mehr Bäume gepflanzt hat, als alle Grünen zusammen" und dass die Bürger am Land selbst am besten wüssten, was sie brauchen – ohne Bevormundung der Großstadt-Eliten. Es ist eine simple, aber wirkungsvolle Rhetorik, die Aiwanger bedient: die Großkopferten aus der Stadt gegen die kleinen Leute auf dem Land. Dabei ist für den bayerischen Wirtschaftsminister und Vize-Ministerpräsidenten irrelevant, dass er inzwischen selbst zu eben diesen Großkopferten gehört. Auch seine Fans scheint das nicht zu stören.
Dass er polarisiert und nach Ansicht vieler Kritiker auch Grenzen überschreitet, hat Aiwanger im Juni bei der umstrittenen Demonstration in Erding gezeigt. Bei einer Kundgebung vor rund 13.000 Menschen – darunter auch AfD-Anhänger – holte Aiwanger zum verbalen Rundumschlag aus. Es war vor allem ein Satz, der eine gewaltige Debatte entfachte: "Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss und denen in Berlin sagen: Ihr habt's wohl den Arsch offen da oben."
Scharfe Kritik nach Erding-Demo
Während die einen ihn für die "klaren Worte" überschwänglich lobten, kritisierten ihn andere scharf. Der Vorwurf: Er nutze die Sprache der AfD, wiegle die Menschen auf und fische am rechten Rand. Aiwanger selbst fühlt sich missverstanden. Wenn man bei über 30 Grad vor Tausenden Menschen auf der Bühne steht und gut eine Stunde lang frei spricht, kann man laut Aiwanger nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Den umstrittenen Satz zurücknehmen oder sich entschuldigen will er aber nicht.
Mit einer "Politik nach gesundem Menschenverstand" will Aiwanger enttäuschte Wähler, auch AfD-Wähler, zurückholen in die politische Mitte. "Durch die starken Grünen, durch die linke Meinungsmaschinerie, sagen die Menschen immer mehr, ich will dagegen protestieren." Das müsse man ernst nehmen. "Wir können doch nicht sagen, wenn uns unser Volk nicht gefällt, dann wählen wir uns ein neues", bekräftigt Aiwanger im Interview mit BR24.
Stabile Umfragewerte für die Freien Wähler
In Umfragen kommen die Freien Wähler mit all dem gut an – trotz Flugblatt-Affäre. Die scheint den Freien Wählern nicht zu schaden – im Gegenteil. Einen Monat vor der Landtagswahl zeigt der Trend in Umfragen steil nach oben. Im BR24 BayernTrend kommen die Freien Wähler auf 17 Prozent: Höchstwert für die Partei. Sie stehen damit erstnals in einem BR24 BayernTrend auf Platz zwei hinter der CSU. Die muss mit nur 36 Prozent den niedrigsten Umfragewert seit mehr als eineinhalb Jahren hinnehmen.
Die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch sieht als Ursache für das Plus bei den Freien Wählern eine Mischung aus nochmals gewachsener Bekanntheit und Solidarisierungseffekten. „Das war absehbar, dass es eine Solidarisierungsbewegung geben würde“, sagt sie. Der Vorwurf der Freien Wähler, dass Aiwanger Opfer einer Kampagne sei, spreche viele Menschen an, auch CSU-Anhänger. Ob sich das am Ende auch im Wahlergebnis zeige, sei aber noch offen.
Das "Zugpferd Aiwanger" zieht weiter an
Die Freien Wähler sind guter Dinge. Das "Zugpferd Aiwanger", wie ihn Fraktionschef Florian Streibl nennt, hat es wieder einmal geschafft. Aiwanger hebe sich ab "von den aalglatten Politikern anderer Parteien", sagt Fabian Mehring, der parlamentarische Geschäftsführer. Solange der Chef Stimmen zieht, ist ihm vieles erlaubt. Kritik äußert kaum jemand.
Der 84-jährige Armin Grein, einer der Gründungsväter der Freien Wähler und jahrzehntelang Landes- und Bundesvorsitzender, ist einer der wenigen bekannten Parteimitglieder, der Aiwanger öffentlich kritisiert. Er habe Hubert Aiwanger nach dessen Erdinger Rede ausrichten lassen, er sei zu weit gegangen, erzählt Grein. Ihn stört nicht nur der Satz vom Zurückholen der Demokratie, auch Aiwangers "Fäkalsprache", der Ruf "Ihr in Berlin habt’s wohl den Arsch offen". Grein erinnert sich gut an das Jahr 2006, als er aus Altersgründen sein Amt als Landesvorsitzender der Freien Wähler niederlegte. Fast wie aus dem Nichts war damals der 35-jährige Hubert Aiwanger aufgetaucht, bis dahin ein politischer Nobody.
Aiwanger wird vom politischen Nobody zum Landesvorsitzenden
Der Agrarwirt Aiwanger wurde aus dem Stand Landesvorsitzender, obwohl eigentlich schon ein anderer Kandidat als gesetzt galt. Aiwanger hielt eine mitreißende Rede, damals wie heute ohne Manuskript. Und veränderte die Freien Wähler nach seiner Wahl grundlegend. 2008 der Einzug in den Landtag, Aiwanger wird Fraktionschef. Als One-Man-Show wurde er von da an bezeichnet, gleichzeitig war er auch noch Landes- und Bundesvorsitzender. 2018 schaffte es Aiwanger mit seinen Freien Wählern in die bayerische Staatsregierung. Den Posten als Fraktionschef gab er zwangsläufig auf; doch der stellvertretende Ministerpräsident und Wirtschaftsminister Aiwanger ist immer noch Landes- und Bundesvorsitzender.
Hubert Aiwanger fordert die CSU heraus
Anders als die FDP in der schwarz-gelben Koalition von 2008 bis 2013 konnten sich die Freien Wähler als Juniorpartner der CSU in der Regierungskoalition behaupten. Immer wieder scheint es, als treibe Aiwanger Ministerpräsident Söder vor sich her. Zurückpfeifen kann Söder seinen Stellvertreter kaum, denn schon vor Monaten hat er sich auf eine Fortsetzung der Koalition mit den Freien Wählern nach der Landtagswahl festgelegt. Söder steckt in der Zwickmühle, was Aiwanger nicht stört. Er wird bis zur Wahl weiter die Grenzen der Geduld bei der CSU ausreizen.
Bei den Freien Wählern heißt es mittlerweile sogar, viele in der CSU seien neidisch. Für den FW-Fraktionsvorsitzenden Florian Streibl spricht Aiwanger eine Sprache, die die Leute verstünden, der Letzte, der so geredet habe, sei Franz Josef Strauß gewesen.
Twitter-Weltmeister Aiwanger
Doch Aiwanger fühlt sich nicht nur im Bierzelt wohl. Er ist auch auf Twitter aktiv wie kaum ein anderer Politiker. Twittert oft im Minutentakt. Im Interview mit dem "Münchner Merkur" erklärte er seine Dauerpräsenz folgendermaßen: "Weil es mir ein Bedürfnis ist, gewisse politische Positionen nicht einfach so stehen zu lassen. Ich verteidige da die normale Welt gegen die in meinen Augen verrückte Welt. Da stelle ich mich in den Weg."
Professorin Jasmin Riedl kennt Aiwangers Twitterverhalten genau. Die Politikwissenschaftlerin von der Bundeswehr-Universität München wertet seit Januar die Twitterdaten bayerischer Politiker aus.
Aiwanger twittert nicht zimperlich
Hubert Aiwanger verschickt im Schnitt täglich gut 15 Tweets, damit liegt er weit vorn, sogar vor Ministerpräsident Markus Söder, so Riedl. Zum Vergleich, Söder bringt es auf durchschnittlich nur 4,7 Tweets pro Tag. Aiwangers Twitter-Stil ist nicht zimperlich. Immer wieder liefert er sich hier einen scharfen Schlagabtausch mit Usern, die nicht seiner Meinung sind. Kritiker beschimpft er zum Beispiel als „Lügenbeutel“ oder „Klappe zu, Hirn an, falls vorhanden.“
Kritiker: "Polemisches Bierzeltgeschwätz"
Für Kritiker ist Aiwanger ein Populist. Für BayernSPD-Chef Florian von Brunn ist er sogar ein Rechtspopulist. Auch in den Bierzelten überzeugt Aiwanger natürlich nicht alle. "Ein richtiges Bierzeltgeschwätz", "extrem polemisch" oder "nichtssagend" finden manche Besucher seine Rede. Seine Anhänger hingegen stehen Schlange für ein Selfie "mit dem Hubert".
Anmerkung der Redaktion: Der Artikel wurde nach der Flugblatt-Affäre aktualisiert.
Im Video: Aiwangers Rede zum Heizungsgesetz
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