Ortstermin im Irak. Wir begleiten Hakeema Taha in ihr Heimatdorf. Die Region ist noch immer von Zerstörung gezeichnet. Durch ein schwarzes Tor betritt die 29-Jährige das Schulgelände in Kocho. Im Eingangsbereich der Schule sieht sie ihre Angehörigen wieder. Von Porträts auf großen Tafeln schauen sie ihre Mutter, ihr Vater und ihr kleiner Bruder an. Alle wurden 2014 ermordet.
Am 15. August stürmten Terroristen des sogenannten Islamischen Staates das jesidische Dorf. Die Männer hatten es gezielt auf die religiöse Minderheit abgesehen. Unter den IS-Anhängern galten Jesiden als Teufelsanbeter. Hunderttausende wurden vor rund zehn Jahren vertrieben, mehr als 5.000 Menschen sollen ermordet worden sein. Seit 2023 stuft die Bundesrepublik das offiziell als Völkermord ein.
Erst verschleppt, dann in Deutschland
Hakeema Taha selbst wurde im Zuge des Überfalls von IS-Anhängern nach Syrien verschleppt und versklavt. Sie war eine von rund 7.000 Personen, die dieses Schicksal erleiden mussten. Doch nach zwei Monaten konnte sie fliehen und kam über ein von Baden-Württemberg initiiertes Programm nach Deutschland. Heute arbeitet sie als Altenpflegerin in einem Seniorenheim. Doch während Hakeema einen sicheren Aufenthaltstitel hat, ist die Zukunft ihres Bruders Akram ungewiss.
Akram hatte damals Glück – er überlebte den Überfall – als einer der wenigen aus der Familie. Er war an diesem Tag nicht im Dorf. Seine Frau und seine Kinder wurden ein Jahr lang von IS-Terroristen gefangen gehalten. Er konnte sie schließlich freikaufen. Heute leben sie gemeinsam in Niedersachsen, aber sicher fühlen sie sich hier immer noch nicht. Sie fürchten eine Abschiebung. Laut Anwalt Tobias Oppermann reichte den Behörden die Flucht vor dem IS in diesem Fall nicht als Asylgrund aus.
Wieder vermehrt Abschiebungen in den Irak
Damit ist die Familie kein Einzelfall: Seit 2017 wurden immer mehr Asylanträge abgelehnt. Die Begründung: Der IS sei besiegt. Die Region auch für Jesiden wieder sicher. 2023 haben Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen angefangen, vermehrt Jesiden abzuschieben – später auch Niedersachsen. Mitte des Jahres hat Niedersachsen zwar einen Abschiebestopp verhängt, doch der gilt nur temporär. Aus Kreisen der Bundesregierung ist zu erfahren: Jesiden hätten im Vergleich zu sonstigen irakischen Staatsangehörigen eine erhöhte Schutzquote. Ihre Chance zu bleiben ist demnach zwar höher, sie sei zuletzt aber tatsächlich gesunken.
Riskante Rückkehr
Anwalt Oppermann verweist in diesem Zusammenhang auf die Lage im Irak und das Risiko einer Rückkehr: IS-Anhänger würden sich im Untergrund organisieren. Sie seien vermutlich stark genug, um wieder die Kontrolle zu übernehmen, sofern die Sicherheitslage instabiler würde. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind in der Heimatregion der Geschwister zudem noch immer rund 80 Prozent der öffentlichen Infrastruktur, sowie 70 Prozent der Wohnhäuser zerstört. Ein menschenwürdiges Leben ist kaum möglich.
Deutsche Hilfe ein Lippenbekenntnis?
Die Abschiebungen passen deshalb in den Augen von Kritikern nicht zu Hilfszusagen, die der Bundestag im vergangenen Jahr gemacht hatte. Die stellvertretende Vorsitzende des Zentralrates der Jesiden in Deutschland etwa mahnt, die Bundesrepublik müsse die Gefahr für Jesidinnen und Jesiden vor Ort anerkennen.
Mehr zu diesem Thema hören Sie am 6.11.2024 um 12:17 Uhr in der Sendung Funkstreifzug im Radioprogramm von BR24. Sie finden die Sendung schon jetzt im Funkstreifzug-Podcast in der ARD Audiothek.
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