Das kleine jesidische Mädchen starb im August 2015 im Irak – angekettet unter sengender Sonne. Wegen ihrer Mitschuld an der Tat hatte sich die deutsche IS-Rückkehrerin Jennifer W. schon einmal vor dem Oberlandesgericht München (OLG) verantworten müssen. Nun wird seit heute wieder verhandelt.
Die zierliche Angeklagte wirkte angespannt, als sie den Gerichtssaal betrat. Sie verzog keine Miene, ihr Blick: ernst. Die schwarzen langen Haare trug sie offen – dazu rosa Rock und Sakko. Regungslos verfolgte sie das Verfahren. Dann verlas der Verteidiger eine Erklärung der 32-Jährigen: "Ich bereue das Geschehnis. (...) Ich wurde zu Recht verurteilt." In ihrem ersten Verfahren habe sie Aspekte "relativiert oder bestritten". Das wolle sie nun nicht mehr tun: "Ich war auch verantwortlich für den Tod."
Er betrachte die Vorwürfe professionell, hatte ihr Verteidiger Tarig Elobied BR24 vor Prozessstart gesagt: "Meine Aufgabe ist es, die Umstände, die für die Mandantin sprechen, vor Gericht zu Gehör zu bringen."
Im Oktober 2021 hatte das Münchner Gericht eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren gegen Jennifer W. verhängt. Sie habe nicht eingegriffen, um das Kind zu retten, urteilte das Gericht damals. Da waren schon zweieinhalb Jahre seit Prozessauftakt vergangen.
IS-Rückkehrer und ihre Verbrechen an Jesiden
Das Verfahren gestaltete sich schwierig. Minutiös musste der Angeklagten, die aus Niedersachsen stammt, ihre Tat nachgewiesen werden. Viele Zeugen wurden gehört – darunter auch die Mutter des getöteten Mädchens. Das Verfahren zog sich immer mehr in die Länge. Jetzt im Sommer 2023 ist das Urteil bisher nicht rechtskräftig. Für die Angeklagte gibt es keine Gewissheit.
Denn die Revision der Bundesanwaltschaft vor dem Bundesgerichtshof (BGH) war erfolgreich. Zehn Jahre Freiheitsstrafe und die Einstufung als sogenannter minderschwerer Fall reichten der Anklagebehörde nicht.
Dass sich das Verfahren immer noch hinziehe, sei deprimierend. So sei sie nicht in der Lage, ihre Straftat aufzuarbeiten, sagte Jennifer W. heute vor Gericht. Lediglich das beim Verfassungsschutz Niedersachsen angesiedelte Aussteigerprogramm "Neustart" kümmere sich um sie.
In Untersuchungshaft sei sie von Mitinsassinnen als Kindermörderin abgestempelt worden. Diese hätten ihr auch Gewalt angedroht. "Alle wussten oder glaubten zu wissen, was für ein Monster ich bin." Ihre vorherigen Verteidiger, Ali Aydin und Seda Başay-Yıldız, seien ebenfalls bedroht worden. In Mails seien sie etwa dazu aufgefordert worden, Deutschland zu verlassen.
Das heutige Verfahren startete das Münchner OLG mit der Verlesung des BGH-Urteils. Acht Verhandlungstage sind bis zum 29. August angesetzt. Auch diesmal sollen Zeugen erscheinen.
Die jesidische Community verfolgt Verfahren dieser Art genau. Vor deutschen Gerichten landen immer wieder Männer und Frauen, die sich einst dem sogenannten Islamischen Staat (IS) in Syrien und dem Irak angeschlossen hatten. Laut Zeugenberichten versklavten und vergewaltigten sie jesidische Frauen und Mädchen. Es gab auch entsprechende Online-Portale: Lichtbilder zeigten junge Mädchen in verschiedenen Posen und Perspektiven.
Nebenklage hofft auf härteres Urteil
Verteidiger Elobied weiß daher, wie emotional und politisch aufgeladen der Prozess gegen Jennifer W. ist. Aber dann gibt es eben noch die andere Seite, die der Angeklagten. "Die Dauer des Verfahrens nagt an der Psyche meiner Mandantin", so Elobied, der immer wieder Terrorverdächtige vor Gericht vertritt. Er hofft, dass es bei zehn Jahren bleibt. Dann hätte seine Mandantin seit Beginn der U-Haft schon die Hälfte ihrer Strafe abgesessen. Aus seiner Sicht ist die Strafe bereits jetzt "tat- und schuldangemessen".
Anders denkt darüber die Nebenklage. Anwältin Nathalie von Wistinghausen vertritt die Mutter des getöteten Mädchens. Sie sagte BR24 vorab auf Anfrage, dass aus Sicht der Nebenklage "kein sogenannter minderschwerer Fall vorliegt". Sie hofft, "dass die Angeklagte Jennifer W. entsprechend zu einer höheren Freiheitsstrafe verurteilt wird".
So wurde Jennifer W. überführt
Schon 2015 war Jennifer W. nach Deutschland zurückgekehrt. Dort brachte sie auch ein Kind zur Welt. Erst 2018 konnte sie mithilfe eines V-Manns der US-Bundespolizei FBI überführt werden. Auf der Durchreise wurde sie an einer Raststätte in Neu-Ulm verhaftet. Weil die Verhaftung in Bayern erfolgte, muss sich die Niedersächsin in München vor Gericht verantworten.
Jennifer W. war 2014 im Alter von 23 Jahren nach Syrien in das Herrschaftsgebiet des IS gereist. Sie heiratete vor einem IS-Gericht einen Iraker, der kurz zuvor eine jesidische Frau und die fünf Jahre alte Tochter als Sklavinnen gekauft hatte.
Mit ihrem Ehemann zog W. in den Irak. Die versklavte Jesidin musste für das Ehepaar im Haushalt arbeiten. Wie das Münchner OLG im Oktober 2021 feststellte, misshandelte der Mann sie – teils auch nach Beschwerden von W. – häufig. Im August 2015 band er das kleine Mädchen im Hof in der prallen Sonne an ein Fenstergitter. Das Kind starb.
BGH hatte "rechtliche Bedenken"
Dem Münchner Urteil zufolge schritt W. nicht ein, obwohl sie die Lebensgefahr für die Fünfjährige erkannte. Für zwei Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Versklavung, eins davon mit Todesfolge, sowie für Beihilfe zum Mordversuch durch Unterlassen und andere Taten verhängte das OLG gegen W. eine Freiheitsstrafe von neun Jahren.
Hinzu kam eine Verurteilung zu zweieinhalb Jahren wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland. Beides wurde zu der Gesamtstrafe von zehn Jahren zusammengefasst.
Doch der BGH äußerte auf die Revision der Bundesanwaltschaft hin "durchgreifende rechtliche Bedenken". Konkret zweifelte der BGH daran, dass das Münchner Gericht alle Umstände berücksichtigt habe. So seien etwa W.s Beweggründe nicht als möglicherweise straferschwerend erörtert worden. W. sei eine überzeugte Anhängerin des IS gewesen.
Sie habe die Mutter nach dem Tod des Kindes mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen, mit dem Weinen aufzuhören. Sie habe damit "essenzielle emotionale Bedürfnisse" der Frau missachtet. Auch sei vom OLG München nicht ausreichend gewürdigt worden, dass Jennifer W. die vom IS beabsichtigte Zerstörung der jesidischen Volksgruppe gekannt und gebilligt habe.
Ehemann bekam lebenslänglich
Es sei nicht auszuschließen, dass das OLG ohne die Rechtsmängel keinen minderschweren Fall gesehen hätte, sodass eine höhere Strafe hätte verhängt werden müssen, bilanzierte der BGH. Anwalt Elobied sagte, dass das Münchner Gericht nun darauf zu achten habe, alle "relevanten Faktoren zu berücksichtigen". So könne es zur selben Strafe gelangen.
Die Angeklagte räumte heute - anders als im ersten Verfahren - auch explizit ein, der Mutter des getöteten Mädchens eine Waffe an den Kopf gehalten zu haben, als diese um ihre Tochter weinte. Sie betonte aber auch: "Mein Beweggrund war nicht die Vernichtung und Versklavung des jesidischen Volkes." Und: Sie haben sich in einer Ausnahmesituation befunden, sei emotional am Ende gewesen.
Aktuell sei ihre Lage zwar "nichts im Vergleich" zur Mutter der Getöteten, aber auch sie leide, hieß es in der Erklärung. Sie habe kaum Kontakt zu ihrer eigenen Tochter, so Jennifer W.
Auch Jennifer W. selbst hatte sich mit einer Revision an den BGH gewandt. Diese wurde aber verworfen. Ihr Ehemann war 2021 vom Oberlandesgericht Frankfurt zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden, unter anderem auch wegen Völkermordes.
Der Ehemann galt als brutal. Nach der Trauung habe er sein wahres Gesicht gezeigt, sagte Jennifer W. kurz vor dem Urteil 2021 vor Gericht. Er habe damals die Frau und das Mädchen geschlagen. Aber die Angeklagte machte vor Gericht deutlich, dass sie die Brutalität des Mannes ebenso fürchtete. Sie weinte und erklärte, wie abhängig sie doch damals von ihrem Ehemann gewesen sei: "Damals hatte ich nur ihn."
So geht in München nun auch um die Frage, ob Jennifer W. wirklich in der Lage gewesen wäre, sich gegen ihren Mann durchzusetzen, um das Kind zu retten.
"Das ist mein Eindruck vom Islamischen Staat: Dass die Möglichkeiten einer Frau, sich gegenüber dem Mann durchzusetzen, eher gering waren", sagte ihr Anwalt Elobied.
Bekannter Islamist unter den Zuschauern
Zu heutigen Prozess in München erschien am Mittwoch auch Bernhard Falk. Er gilt unter Verfassungsschützern als bekannter Islamist. Immer wieder taucht er bei Prozessen mutmaßlicher Terrorunterstützer auf und informiert in sozialen Netzwerken über die Verhandlungen.
Jennifer W. habe als engagierte Gefangenenhelferin gegolten, berichtete Falk. So war die Angeklagte nach ihrer Rückkehr von der Terrormiliz IS im Herbst 2015 tätig – in jenem Personenkreis, der sich öffentlich mit Terrorverdächtigen in deutschen Gefängnissen solidarisiert und Geld für deren Angehörige sammelt. Teilweise gibt es auch Spendenaktionen für IS-Frauen in kurdischer Lagerhaft in Nordsyrien.
In einem BR-Interview hatte Falk schon 2020 zu verstehen gegeben, dass die Vorwürfe gegen Jennifer W. in der Islamisten-Szene durchaus kontrovers diskutiert werden. "Es ist ja bekannt, dass ich Sympathie habe für diejenigen, die nach Syrien gegangen sind bzw. in den Irak. Aber das ist natürlich kein Freifahrtschein für die Etablierung neuer Unterdrückungsverhältnisse, wenn man gegen Assad kämpft. Es ist ja nicht zu leugnen, dass an den Jesiden schwerste Verbrechen verübt worden sind. Also, die man auch nicht rechtfertigen kann", sagte Falk.
Mit Informationen von AFP und dpa.
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