Diese Veröffentlichung sorgt für Aufregung: Die Chefin des russischen Staatssenders RT, Margarita Simonjan, hat den Audiomitschnitt eines rund 30-minütigen Gesprächs veröffentlicht. Darin sind vier ranghohe Offiziere der deutschen Luftwaffe zu hören, wie sie über theoretische Möglichkeiten eines Einsatzes deutscher Taurus-Marschflugkörper durch die Ukraine diskutieren – teils im Plauderton.
Inzwischen ist klar: Das Audiomaterial ist authentisch, das Gespräch der Luftwaffen-Offiziere wurde abgehört. Wie konnte der Mitschnitt in russische Hände geraten? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Worum geht es in dem Gespräch?
Das interne Gespräch soll der Vorbereitung auf eine Unterrichtung für Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) gedient haben. In dem Austausch geht es unter anderem um die Frage, ob Taurus-Marschflugkörper technisch in der Lage wären, die von Russland gebaute Brücke zur völkerrechtswidrig annektierten ukrainischen Halbinsel Krim zu zerstören. Ein weiterer Punkt ist, ob die Ukraine den Beschuss ohne Bundeswehrbeteiligung bewerkstelligen könnte.
Allerdings ist in dem Mitschnitt auch zu hören, dass es auf politischer Ebene kein grünes Licht für die Lieferung der von Kiew geforderten Taurus-Marschflugkörper gibt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat mehrfach betont, dass er gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine ist. Auch innerhalb seiner eigenen Ampel-Koalition ist diese Position umstritten. Der Kanzler begründet seine Position mit der Gefahr, dass Deutschland in den Krieg hineingezogen werden könnte.
In dem Mitschnitt wird auch diskutiert, wie lange die Ausbildung von Ukrainern an Taurus dauern könnte, wie Deutschland dabei vorgehen könnte und wie die Ausbildung verkürzbar wäre – falls der Kanzler grünes Licht dafür geben würde.
Wie wurden die Offiziere abgehört?
Den ersten Untersuchungen der Bundeswehr zufolge ist ein "individueller Anwendungsfehler" verantwortlich dafür, dass das Gespräch hochrangiger Offiziere über das Waffensystem Taurus abgehört werden konnte. Das sagte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) am Dienstag in Berlin.
Der Fehler gehe auf den Teilnehmer zurück, der von Singapur aus an dem Gespräch teilgenommen habe. Dort sei es zum Datenabfluss über eine "offene Leitung" gekommen. "Nicht alle Teilnehmer haben sich an das sichere Einwahlverfahren gehalten", sagte Pistorius. Dass ein russischer Spion sich eingewählt hat, schloss er aus.
Wie brisant ist der Inhalt des Gesprächs?
Das Gespräch war nicht für fremde Ohren bestimmt. Zu Beginn ist eine lockere Plauderei zu hören. Einer der Beteiligten schwärmt etwa von der Sicht von seinem Hotelzimmer in Singapur. Offenbar wurde das Gespräch über seine Verbindung abgehört.
Teilweise geht es in der Unterhaltung um militärisch sensible Informationen. Einer der Beteiligten – wohl Luftwaffen-Inspekteur Ingo Gerhartz – erklärt, er könne sich vorstellen, dass in einer ersten Tranche 50 und dann noch einmal 50 Flugkörper geliefert würden. Laut ihm würde das aber den Krieg nicht ändern. Allerdings handelt es sich dabei nur um Gedankenspiele, um der Politik Möglichkeiten aufzuzeigen. Die Diskussion um eine mögliche Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern, um die Kiew immer wieder bittet, ist in Deutschland außerdem nicht neu.
Dann ist die Rede davon, dass die Briten im Zusammenhang mit dem Einsatz ihrer an die Ukraine gelieferten Storm-Shadow-Marschflugkörper "ein paar Leute vor Ort" hätten. Worte von Kanzler Scholz vor ein paar Tagen waren in eine ähnliche Richtung interpretiert worden. "Was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden", sagte Scholz. Die Briten erklärten daraufhin, der Einsatz von Storm Shadow durch die Ukraine und der Prozess der Zielauswahl seien Sache der Ukrainer.
Video: Russen verbreiten Luftwaffen-Mitschnitt
Wie reagieren deutsche Politiker?
Deutsche Politiker zeigten sich besorgt und forderten Konsequenzen: Kanzler Scholz sprach bereits am Samstag von einer "sehr ernsten Angelegenheit". Auf eine Frage nach möglichen außenpolitischen Schäden sagte er: "Deshalb wird das jetzt sehr sorgfältig, sehr intensiv und sehr zügig aufgeklärt. Das ist auch notwendig."
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sieht die Enthüllungen als Teil eines "Informationskrieges", den der russische Präsident Wladimir Putin führe. "Es handelt sich um einen hybriden Angriff zur Desinformation. Es geht um Spaltung. Es geht darum, unsere Geschlossenheit zu untergraben", warnte Pistorius. "Wir dürfen Putin nicht auf den Leim gehen."
Fraglich ist, ob Russland weitere interne Gespräche abgehört haben könnte. Der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter rechnet nach dem Leak mit weiteren Veröffentlichungen durch Moskau, sagte er dem ZDF. Er vermutete zudem: "Dieses Bundeswehr-Leak kann ein russischer Versuch sein, die öffentliche Debatte wegzulenken von den Wirecard-Enthüllungen und der Beerdigung von Alexej Nawalny." Verteidigungsminister Pistorius erklärte, er habe keine Kenntnis darüber, ob es einen weiteren Abhörfall geben könnte.
"Wir müssen dringend unsere Sicherheit und Spionageabwehr erhöhen, denn wir sind auf diesem Gebiet offensichtlich vulnerabel", sagte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestags, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Spionage gehöre "zum Instrumentenkasten Russlands hybrider Kriegsführung". Strack-Zimmermann sieht als Grund für die Veröffentlichung, dass Moskau Scholz davon abschrecken will, doch noch grünes Licht für die Lieferung von Taurus zu geben. "Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass wir jetzt nicht alle übereinander herfallen", sagte sie am Montag im ZDF-Morgenmagazin. Genau das wolle Putin.
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder sagte, es gebe nun "eine Menge an Diskussionsbedarf". Der CSU-Chef sagte in der ARD-Sendung "Caren Miosga", dass "das Ganze jetzt unter uns gesagt auch ’ne fürchterliche Woche für Deutschland" gewesen sei.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Union will wegen der Abhöraffäre bei der Bundeswehr eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses. Alexander Dobrindt, Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, hatte im "Spiegel" Aufklärung von der Bundesregierung gefordert und einen Untersuchungsausschuss nicht ausgeschlossen. Ähnlich äußerte sich der außenpolitische Sprecher der Union, Jürgen Hardt (CDU), und pochte gegenüber Welt TV auf eine Regierungserklärung. In der kommenden Woche werde es zudem eine Regierungsbefragung mit Kanzler Olaf Scholz im Bundestag geben.
Verteidigungsminister Pistorius sagte, über einen möglichen Untersuchungsausschuss müsse der Bundestag entscheiden und zugleich die Folgen im Auge behalten. Es gehe um die Frage, "ob dieser Vorgang es rechtfertigt, eine innenpolitische Diskussion mit all dem, was dann öffentlich diskutiert wird, zu führen und damit genau das zu tun, was Putin erreichen will". Pistorius sagte, er sei sicher, dass das Parlament verantwortungsbewusst damit umgehen werde.
Auch Vertreter von SPD und Grünen sprachen sich gegen einen Untersuchungsausschuss zur Abhöraffäre bei der Bundeswehr aus. Der frühere Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Wolfgang Hellmich (SPD), sagte "MDR Aktuell": "Das hilft überhaupt nicht. Ich war selbst schon mal Vorsitzender so eines Untersuchungsausschusses. Die Arbeit dauert zwei bis drei Jahre." Hellmich erklärte, der russische Präsident Wladimir Putin wolle mit der Veröffentlichung des Gesprächsmitschnitts Deutschland und Europa spalten. Deshalb sei eine "größtmögliche bundesdeutsche Geschlossenheit" wichtig.
Video: Scholz zum Taurus-Leak
Was sagt Russland dazu?
Russische Politiker interpretierten das abgehörte Gespräch entsprechend dem russischen Narrativ: Die deutsche Taurus-Abhöraffäre bezeugt nach Ansicht des Kremls die "direkte Verwicklung" des Westens in den Konflikt in der Ukraine. "Die Aufnahme selbst lässt vermuten, dass die Bundeswehr substanziell und konkret Pläne diskutiert, russisches Territorium anzugreifen", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Montag. Ob die Bundeswehr auf Geheiß der Regierung oder auf Eigeninitiative agiere, sei unklar. Es stelle sich auch die Frage, ob Bundeskanzler Olaf Scholz die Lage unter Kontrolle habe.
Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte, das Gespräch zeige, "dass das Kriegslager in Europa immer noch sehr, sehr stark ist". Die "Kriegspartei", also die westlichen Unterstützer der Ukrain, wolle ihren Kurs nicht ändern und Russland eine "strategische Niederlage auf dem Schlachtfeld zufügen". Lawrows Sprecherin Maria Sacharowa forderte "Erklärungen von Deutschland". Versuche, die Beantwortung dieser Fragen zu vermeiden, würden "als Schuldeingeständnis bewertet werden".
Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew schrieb bei Telegram, die deutsche Seite bediene sich "falscher Rhetorik", wenn sie vorgebe, nicht an dem Konflikt beteiligt zu sein. Er merkte zudem an, "mit welcher Gründlichkeit und in welchem Detail die Deutschen den Angriff auf unser Territorium mit Langstreckenraketen erörtern". Russland wolle zudem Zurückhaltung üben. Die Moskauer Regierung werde den Vorfall aber nicht vergessen, sagte Medwedew laut der Nachrichtenagentur RIA bei einem Jugendforum im Süden Russlands.
Am Montagvormittag fand ein Gespräch des deutschen Botschafters im russischen Außenministerium statt – allerdings habe es sich "um ein schon länger terminiertes Gespräch" gehandelt, erklärte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. Er trat damit anderslautenden Darstellungen von russischen Medien entgegen, die berichteten, der Botschafter sei kurzfristig einbestellt worden.
Wie bewerten Sicherheitsexperten den Vorfall?
Dass Moskau an den Mitschnitt des Gesprächs gelangen konnte, ist brisant. Sicherheitsexperten betonen jedoch, dass es im abgehörten Gespräch nicht um deutsche Angriffspläne mit dem Taurus geht, wie die russische Propaganda suggeriert. Vielmehr werden Szenarien durchgegangen, wie die Ukrainer mit Taurus umgehen könnten.
Tobias Schneider vom Berliner Thinktank Global Public Policy Institute (GPPi) erklärte bei X: "Das Beunruhigendste daran ist, dass die Russen das Band irgendwie in die Hände bekommen haben. Ansonsten ist es nur ein unstrukturiertes Brainstorming über praktische Herausforderungen für den Fall, dass Scholz seine Meinung zum Transfer ändert." Im Grunde sei es "die gleiche Diskussion, die alle in der deutschen Verteidigung seit Monaten führen: Welchen Ausbildungsstand müssten die Ukrainer haben, um das System kompetent bedienen zu können?"
Sicherheitsexperte Nico Lange von der Münchner Sicherheitskonferenz schrieb bei X: "Putins Russland führt Krieg. Nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen uns." Dazu zählten für Moskau auch Maßnahmen wie das Manipulieren oder Fälschen von Quellen und Informationen, Leaks an die Presse oder das Entzünden oder Verstärken politischer Gegensätze. Man müsse damit rechnen, dass Russland "einen professionellen, großen und gut finanzierten Apparat" betreibe, um "aktive Maßnahmen" gerade in Bezug auf Deutschland durchzuführen.
Video: BR-Korrespondent Jörg Poppendieck zum Abhörfall
Mit Informationen von dpa, AFP und Reuters
Dieser Artikel ist erstmals am 2. März auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel aktualisiert und erneut publiziert.
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