Der Anschlag auf die Konzerthalle bei Moskau beschäftigt Russland, aber auch die westliche Welt. Was ist bereits bekannt, was noch offen? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.
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Was ist passiert?
Der Anschlag ereignete sich in Krasnogorsk im Nordwesten von Moskau in dem beliebten Veranstaltungszentrum "Crocus City Hall". Dort gibt es auch eine Konzerthalle mit mehr als 6.000 Plätzen, wo am Freitagabend die russische Band "Piknik" auftreten sollte – vor ausverkauftem Haus. Kurz vor 20.00 Uhr Ortszeit (18.00 Uhr MEZ) fuhr dort laut Augenzeugen ein weißes Auto vor, aus dem bewaffnete Männer ausstiegen und das Feuer auf Wachpersonal und Besucher eröffneten.
Die vier direkt beteiligten mutmaßlichen Schützen sollen sich keine halbe Stunde in der Crocus City Hall aufgehalten haben. In der Konzerthalle schossen sie laut Augenzeugen wahllos auf Konzertbesucher und legten dort Feuer – mit Benzin, das sie im Rucksack dabei hatten. Danach konnten die Täter in dem Auto, mit dem sie den Augenzeugen zufolge gekommen waren, fliehen. Das Auto wurde dann nach offiziellen Angaben gestoppt, in dem Wagen lagen demnach Waffen und tadschikische Pässe. Insgesamt wurden elf Menschen festgenommen. Die russischen Meldungen konnten bisher nicht unabhängig überprüft werden.
Inzwischen sind vier mutmaßlichen Attentäter dem Haftrichter vorgeführt worden. Die Angeklagten wurden am Sonntag von vermummten Sicherheitskräften ins Basmanny-Gericht in der russischen Hauptstadt gebracht und mit deutlich sichtbaren Blutergüssen, Schwellungen, Schürf- und Platzwunden in Glaskäfigen platziert. Vor dem Gerichtstermin waren Videoaufnahmen im Netz verbreitet worden, die zeigen sollen, dass die festgenommenen Männer gefoltert wurden und einem von ihnen gar ein Ohr abgeschnitten wurde. Ob die Aufnahmen authentisch sind, ließ sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Mindestens zwei der Verdächtigen haben sich Medienberichten zufolge schuldig bekannt. Die vier Männer sollten bis zum 22. Mai in Untersuchungshaft bleiben.
Wie viele Menschen sind gestorben?
Unklar ist, wie viele Tote und Verletzte es genau gibt, weil die Beseitigung der Trümmer nach dem Großbrand in der Konzerthalle am Samstag andauerte. Zudem gab es so viele Schwerverletzte, dass die Behörden davon ausgingen, nicht alle Leben retten zu können. Aktuell ist die Rede von mindestens 137 Toten – darunter auch drei Kinder. 62 Leichen seien identifiziert worden. Über 150 Menschen wurden verletzt. Viele der Verletzten sollen in kritischer Verfassung sein.
Was sagen Überlebende?
Viele Überlebende sind zutiefst geschockt. Die Nachrichtenagentur dpa berichtet etwa von der 30 Jahre alten Margarita. Als die bewaffneten Angreifer am Freitagabend den Konzertsaal der Crocus City Hall stürmten, habe sie gerade mit ihrem Mann auf einer der oberen Besuchertribünen gestanden, erzählt sie. "Wir wollten ein Erinnerungsfoto machen." Im ersten Moment habe sie die Explosionsgeräusche für lauten Begrüßungsapplaus für die Künstler gehalten, erinnert sie sich. "Aber es knallte weiter. Da habe ich sofort verstanden, dass etwas nicht stimmt."
Ihr Mann sei aufgesprungen und habe gerufen: "Renn weg!" In den Fluren habe Panik und Unübersichtlichkeit geherrscht, erzählt Margarita weiter. "Es hat sich angefühlt, als seien die Schüsse direkt neben uns. Wir hatten Angst, dass wir jetzt runtergehen und sie dann kommen."
Mehrere Überlebende sind am Samstag zu der Konzerthalle zurückgekehrt, um zu trauern und Blumen abzulegen. Auf Leuchttafeln flackert anstelle von Werbung die Aufnahme einer Kerze und darunter die Aufschrift: "Wir trauern. 22.03.2024."
Im Video: Großes Entsetzen in Russland und weltweit nach dem Anschlag
Was bedeutet der Anschlag für Russland?
Kremlchef Wladimir Putin hat einen nationalen Trauertag für Russland angesetzt. Alle, die für den Anschlag verantwortlich seien, würden bestraft, so Präsident Putin. Die Sicherheitsvorkehrungen seien verschärft worden. In der russischen Hauptstadt und im Moskauer Umland wurden alle Großveranstaltungen abgesagt. Theater, Kinos und Museen blieben über das Wochenende geschlossen. Auch der Rote Platz in Moskau war abgesperrt. In der ganzen Stadt gab es ein verstärktes Aufgebot von Uniformierten. Zu Hunderten folgten Menschen Behördenaufrufen, für die vielen Verletzten Blut zu spenden.
Die Folgen nach solchen Terroranschlägen sind in Russland immer weitreichend. Besonders prominent sind nun neue Forderungen auch aus der Kremlpartei Geeintes Russland, die Todesstrafe wieder einzuführen, um Täter stärker abzuschrecken. Zu erwarten ist, dass die Sicherheitsvorkehrungen deutlich verschärft werden. Putin könnte den Anschlag auch nutzen, um politische Repressionen zu verstärken.
Wer ist für den Anschlag verantwortlich?
Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) reklamierte den Anschlag für sich. Der Anschlag stehe im Zusammenhang mit dem "tobenden Krieg" zwischen dem Islamischen Staat und den Ländern, die den Islam bekämpften, teilt die Nachrichtenagentur "Amak", das Sprachrohr der IS-Miliz, auf dem Kurznachrichtendienst Telegram mit.
Zudem veröffentlichte die Dschihadistenmiliz auf einem von Amak betriebenen Telegram-Kanal ein mutmaßlich von den Angreifern gedrehtes Tatvideo. Zu sehen und zu hören sind in dem gut einminütigen Video mehrere mit Sturmgewehren und Messern bewaffnete Menschen, die offenbar in der Eingangshalle der Crocus City Hall Schüsse abfeuern. Die Gesichter und Stimmen der Angreifer sind unkenntlich gemacht, um sie herum liegen zahlreiche leblose Körper, im Hintergrund ist Feuer zu sehen.
Auch Bilder der Personen, die an dem Anschlag beteiligt gewesen sein sollen, veröffentlichte die Extremistenmiliz. Das berichten mehrere Terrorexperten auf "X" (vormals Twitter), unter anderem Aaron Y. Zelin vom "Washington Institute for Near East Policy".
Während westliche Experten das Bekennerschreiben für authentisch halten, hält sich die russische Regierung mit einer Bewertung zurück. Die vier Angreifer seien festgenommen worden, als "sie sich in Richtung Ukraine bewegten", sagte Russlands Präsident Wladimir Putin in einer TV-Ansprache.
Warum führt eine Spur zu einem afghanischen IS-Ableger?
In einem Bekennerschreiben des IS zum Anschlag wird ausdrücklich der Islamische Staat Provinz Khorasan (ISPK) erwähnt. Das berichtet auch der Terrorexperte Peter Neumann auf X. Bei dem ISPK handelt es um einen IS-Ableger in Afghanistan, der schon seit einigen Jahren einen bewaffneten Konflikt mit den militant-islamistischen Taliban austrägt.
Der ISPK rekrutiere sehr aktiv in ex-sowjetischen Staaten in Zentralasien und im Kaukasus und werde auch mit Anschlagsplänen an Weihnachten in Köln, Wien und Madrid in Verbindung gebracht, so Neumann. Aufgrund dieser regen Aktivitäten warnt das Bundesamt für Verfassungsschutz schon seit Monaten vor dem ISPK.
Zuletzt wurden in Deutschland immer wieder Personen verhaftet, die mit dem ISPK in Verbindung stehen sollen. Vor wenigen Tagen erst hatte die Bundesanwaltschaft im Raum Gera in Thüringen zwei Männer festnehmen lassen, die "in Stockholm im Bereich des schwedischen Parlaments Polizisten und andere Personen mit Schusswaffen töten" wollten, wie die Behörde in Karlsruhe mitteilte. Den Ermittlern zufolge hatten sie ihre Anweisungen vom ISPK erhalten.
Sind die Verhafteten wirklich die "echten" Terroristen?
Hans-Jakob Schindler, Seniordirektor der gemeinnützigen internationalen Organisation "Counter Extremism Project" (CEP), hält es für möglich, dass Russland jene verhaftet hat, die den Anschlag verübt haben. Jedoch sei die Schnelligkeit der russischen Behörden sehr erstaunlich, sagt Schindler im Interview mit BR24. Skeptisch ist Schindler vor allem deshalb, weil die Verdächtigen bereits kurz nach dem Anschlag hunderte Kilometer von Moskau entfernt verhaftet worden seien.
Vorwürfe gegen Ukraine: Wie reagiert sie darauf?
Die russische Propaganda verbreitet, dass die Ukraine in den Anschlag verwickelt sei. Auch Präsident Putin brachte eine mögliche Verwicklung des Nachbarlandes ins Spiel. Russland hatte die Ukraine vor gut zwei Jahren überfallen. In einer TV-Ansprache sagte er, vier der inzwischen elf festgenommenen Männer, die mutmaßlich für den Anschlag verantwortlich sind, hätten versucht, über die Ukraine zu fliehen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wies die Versuche Putins, mit unbelegten Schuldzuweisungen der Ukraine eine Mitverantwortung für den Anschlag zuzuschieben, kategorisch zurück. "Nach dem, was gestern in Moskau passiert ist, versuchen Putin und die anderen Bastarde natürlich nur, jemand anderem die Schuld in die Schuhe zu schieben", sagte Selenskyj am Samstagabend in seiner täglichen Videoansprache.
Selenskyjs Berater Mychajlo Podoljak warf Russland vor, die Attacke politisch zu instrumentalisieren. "Die Ukraine hat noch nie auf die Nutzung von terroristischen Methoden zurückgegriffen", schrieb er auf X.
Kämpfen Islamisten auf Seiten der Ukraine? Und haben sie etwas mit dem Anschlag zu tun?
Auf Seiten der Ukraine kämpfen tatsächlich Islamisten, die bereits in Syrien aktiv waren. Sie kämpften dort für eine von Tschetschenen dominierte Miliz. Bereits Ende Oktober 2022 wurde laut Bayerischem Verfassungsschutz bekannt (externer Link), dass der ehemalige Anführer dieser Miliz "mit 25 Kämpfern in der Ukraine angekommen war, um sich dort am Kampf gegen Russland zu beteiligen." Dem Verfassungsschutz zufolge geht es den Islamisten "vermutlich vor allem um Vergeltung für die Tschetschenien-Kriege." Die Gruppe hatte in der Vergangenheit auch Interviews gegeben - etwa dem Sender "Radio Free Europe" (externer Link).
Nach dem Zerfall der Sowjetunion kämpfte Tschetschenien in zwei Kriegen um seine Unabhängigkeit von Russland und verlor. In dieser Zeit waren auch auf tschetschenischer Seite Islamisten sehr aktiv.
Pro-Russische Propagandisten verbreiten nun in sozialen Netzwerken das Gerücht, dass die in der Ukraine aktiven Islamisten die Terroristen von Moskau unterstützt hätten. Hans-Jakob Schindler vom "Counter Extremism Project" hält das für sehr unrealistisch. Die Einheit werde im Raum Kiew eingesetzt. Diese Islamisten hätten keine Bezüge zum afghanischen Ableger ISPK. Außerdem seien sie stark in die ukrainische Militärmaschinerie eingebunden. Die Ukraine wiederum habe kein erkennbares Interesse, derartige Anschläge zu unterstützen. Dies sei kontraproduktiv, so Schindler. Allerdings sei es keine gute Idee von der Ukraine gewesen, die tschetschenischen Kämpfer ins Land zu lassen. Nach dem Anschlag von Moskau sei das nur Futter für russische Propaganda.
Gab es zuvor Hinweise auf einen möglichen Anschlag?
Die Vorsitzende des Bundestags-Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, sagte der "Bild am Sonntag", es habe eine Warnung vor Anschlägen gegeben, "sogar spezifisch, was Konzerte angeht". Es sei nicht nachvollziehbar, dass es keine zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen gegeben habe. Der Terroranschlag sei ein "schwerer Schlag" für die russischen Sicherheitsbehörden.
"Offensichtlich hat Putin in völliger Fehleinschätzung diese Warnungen nicht ernst genommen und wird davon abzulenken versuchen", sagte sie mit Blick auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Anstatt einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu führen, solle sich Putin mit anderen Ländern der Welt gegen den Terror zur Wehr setzen. "Der internationale Terrorismus ist die wahre Geißel der Menschheit", sagte sie.
Die Geheimdienste der USA und anderer westlicher Länder hatten bereits Anfang März vor einem drohenden Anschlag gewarnt. Man habe in den vergangenen Wochen herausgefunden, dass die IS-Zelle in Afghanistan einen Anschlag in Moskau plane, sagte ein ranghoher US-Geheimdienstvertreter der Nachrichtenagentur AP. Über vertrauliche Kanäle habe man diese Informationen kürzlich an Russland weitergegeben. Präsident Wladimir Putin tat dies nach seiner Wiederwahl am vergangenen Sonntag als westliche Provokation ab.
Die Anschläge seien nicht überraschend, so Terrorexperte Schindler im Gespräch mit BR24. Der ISPK habe schon seit Wochen in sozialen Netzwerken gegen Russland gehetzt. Auch deshalb habe sich die Tat abgezeichnet. Westliche Sicherheitsbehörden seien inzwischen gut in der Lage, solche großangelegten, gut vorbereiteten Anschläge zu erkennen. Der russische Sicherheitsapparat sei dagegen hoch ideologisiert und folge Präsident Putin blind. In einem derartigen Sicherheitsapparat tauchen Schindler zufolge "Wahrnehmungslücken" auf.
Wie reagiert die Bundesregierung auf den Anschlag?
Bundesinnenminister Nancy Faeser (SPD) hält nach derzeitigem Stand ebenfalls Islamisten für den Anschlag bei Moskau für verantwortlich. "Nach allem, was bisher bekannt ist, ist davon auszugehen, dass die Terrorgruppe 'Islamischer Staat Provinz Khorasan' den mörderischen Terroranschlag in der Nähe von Moskau zu verantworten hat", sagte sie der "Süddeutschen Zeitung" (online Samstag).
Von dieser Gruppe gehe derzeit auch in Deutschland die größte islamistische Bedrohung aus, sagte Faeser. "Die Gefahr durch islamistischen Terrorismus bleibt akut." Faeser verurteilte den Anschlag bei Moskau. "Wir trauern mit den Familien der vielen unschuldigen Opfer dieses feigen und brutalen Terroranschlags", sagte sie.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach am Samstag von einem "feigen, unmenschlichen Terror", Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schrieb, der "schreckliche Terrorangriff auf unschuldige Konzertbesucher" werde verurteilt. Das Auswärtige Amt aktualisierte nach der Tat seine Reise- und Sicherheitshinweise für Russland. "Unsere Gedanken sind mit den Angehörigen der Opfer und allen Verletzten", schrieb Scholz auf X.
Baerbock übermittelte ebenfalls bei X den Menschen in Russland ihr Mitgefühl. "Unschuldige Menschen, die einfach nur zu einem Rockkonzert gehen wollten, wurden kaltblütig ermordet." Auch Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) sprach von "furchtbaren Nachrichten aus Moskau" und erklärte weiter, wichtig sei nun, "die Hintergründe schnell aufzuklären".
Mit Informationen von dpa und Reuters.
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