Eine Rakete des Typs ATACMS beim Abschuss.
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Eine Rakete des Typs ATACMS (Army Tactical Missile System) beim Abschuss.

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ATACMS: Wie sie funktionieren und was sie bringen

ATACMS: Wie sie funktionieren und was sie bringen

US-Präsident Joe Biden hat der Ukraine erlaubt, amerikanische ATACMS-Raketen auch auf russisches Gebiet zu schießen. Wie funktionieren diese Waffen – und welche Auswirkungen haben sie im Ukraine-Krieg? Fragen an den Militärexperten Gustav Gressel.

Nach der Freigabe durch die USA hat die Ukraine ATACMS-Raketen auf Russland abgefeuert. Was ist das für eine Waffe? Wie funktioniert sie? Kann sie den Krieg beenden – oder droht gar eine weitere Eskalation? Der österreichische Militärexperte Gustav Gressel von der Landesverteidigungsakademie Wien gibt im BR24-Interview Antworten.

BR24: Was zeichnet die US-amerikanischen ATACMS-Raketen aus?

Gressel: ATACMS ist eine quasi-ballistische Rakete, also eine Rakete, die in einer sehr flachen Flugparabel auf ihr Ziel zusteuert. Die älteren Modelle, die die Ukraine bekommen hat, verfügen über viele kleine Gefechtsköpfe, die sich dann über eine große Fläche verteilen. Damit können sie mit einer Rakete mit einem Schlag auf einer Fläche von etwa einem Quadratkilometer alle möglichen militärischen Systeme ausschalten. Das ist auch besonders effizient für einen Angriff gegen Systeme, die von GPS-Störsendern geschützt werden oder auch gegen Flugplätze.

Karte: So weit reichen die verschiedenen Raketen

BR24: Könnte die Ukraine jetzt Moskau treffen?

Gressel: Nein. ATACMS schießen etwa 300 Kilometer weit. Der Werfer muss dazu hinter der Front stehen, um sich selbst zu schützen. Er kann ja nicht direkt auf der Nulllinie stehen – und damit kann man Moskau beim besten Willen nicht erreichen. Das Gleiche gilt übrigens auch für den Taurus.

BR24: Und inwiefern werden für den Einsatz von ATACMS und Taurus westliche Soldaten gebraucht? 

Gressel: Der Bundeskanzler hat im Zuge der Taurus-Debatte das Märchen in die Welt gesetzt, es brauche Soldaten des Westens, um diese Waffensysteme einzusetzen. Dieses Argument stimmt nicht; für ATACMS noch viel weniger als für den Taurus. Für beide braucht man im Grunde nur die Zielkoordinaten, da wird nichts programmiert und den Abschussvorgang nehmen ukrainische Soldaten selber vor.

Sie klären mit den westlichen Unterstützern zwar ab, welche Ziele angegriffen werden; das ist aber auch der Fall bei Zielen, die in den besetzten Gebieten der Ukraine angegriffen werden, damit der Westen weiß, was mit seinen Waffen geschieht. Aber die Einsatzausführung erfolgt bei all diesen Systemen nur mit ukrainischen Soldaten.

Im Video: Possoch klärt – ATACMS als Wendepunkt des Ukraine-Krieges?

BR24: Das heißt also, die Freigabe der ATACMS-Raketen für Ziele in Russland bedeutet keine tiefere Involvierung des Westens in den Krieg?

Gressel: Nein, bedeutet sie nicht. Es kann sein, dass die Herstellerfirmen das Geofencing – also die programmierte Reichweitenbeschränkung der Raketen – persönlich zurücknehmen müssen. Dafür kann es sein, dass ein Techniker der Firma vorbeischaut, kurz einen Laptop an das Gerät anschließt und wieder fährt. Man muss auch sagen, dass bei allen Waffensystemen eine gewisse Systemwartung durch die Herstellerfirma notwendig ist, gerade was den IT-Sektor angeht.

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Militärexperte Gustav Gressel von der Landesverteidigungsakademie Wien.

BR24: Ist die ATACMS-Freigabe für die Ukraine nun der Gamechanger im Ukraine-Krieg?

Gressel: Nein. Gamechanger gibt es in diesem Krieg nicht. Weder einzelne Waffenlieferungen noch Erlaubnisse geben für sich allein den Ausschlag. Die ATACMS-Freigabe ist eine nützliche Entscheidung; und am Ende des Tages werden viele aneinandergekettete nützliche Entscheidungen über den Ausgang mitbestimmen.

"Die Russen können nicht gleichzeitig Krieg gegen Ukraine und Nato führen"

BR24: Der Kreml droht nun einmal mehr indirekt mit Atomwaffen. Haben wir es nun mit einem neuen Risikolevel zu tun?

Gressel: Nein. Leider haben wir durch das ständige Gerede von Eskalation den russischen Drohungen mehr Glaubwürdigkeit verschafft, als sie eigentlich haben. Die Russen können neben dem Krieg in der Ukraine jetzt nicht gleichzeitig Krieg gegen die Nato führen. Putin würde damit einen Krieg starten, den er nicht gewinnen kann. Das zweite ist: Nukleare Kriegsführung und konventionelle Kriegsführung hängen zusammen.

Wenn man eine Eskalation eingeht, muss man sowohl die konventionellen, als auch die nuklearen Mittel haben, um diese Eskalation zu kontrollieren – ansonsten kann sie schnell außer Hand geraten. Solange Putins Armee in der Ukraine gebunden ist, hat er nicht das Potenzial, eine Eskalation zu kontrollieren. Putin ist kein Menschenfreund, aber er kalkuliert seine Schritte dann doch sehr genau und geht so ein Risiko nicht ein. 

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