Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine bedeutete einen epochalen Bruch. Seit über zwei Jahren führt Russland einen rücksichtslosen Angriffskrieg mitten auf europäischem Boden. Experten warnen sogar davor, Russland könnte noch in diesem Jahrzehnt einen weiteren Krieg beginnen - möglicherweise mit einem Angriff auf eines der östlichen Nato-Länder.
Die Nato galt bislang als Sicherheitsgarant Europas - doch wird sie das auch in Zukunft sein? Ein Wiedereinzug Donald Trumps ins Weiße Haus könnte das Bündnis schwächen.
Militärische Unterstützung durch USA in Zukunft ungewiss
"Um sich auf ein Szenario einzustellen, in dem die militärische Unterstützung Europas durch die USA in Zukunft abnimmt, muss Europa sich verteidigungspolitisch vorbereiten", sagt die Politikwissenschaftlerin und Friedensforscherin Ursula Schröder im Interview mit BR24. "Ein solches Szenario muss durchaus ernst genommen werden."
Auch Jana Puglierin, Politikwissenschaftlerin und Leiterin des Berliner Büros der Denkfabrik "European Council on Foreign Relations", sagt, eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik sei "jetzt wichtiger denn je".
Trump drohte schon während seiner Amtszeit als Präsident mehrfach mit einem Rückzug der USA aus der Nato. Anfang des Jahres sorgte er mit einer Aussage auf einer Wahlkampfveranstaltung für Aufsehen: Bei einem Wiedereinzug ins Weiße Haus würde er möglicherweise nur die Länder vor Russland schützen, die das Zwei-Prozent-Ziel erfüllen, also zwei Prozent ihres Haushaltes in Verteidigung investieren. Muss Europa also über gemeinsame Streitkräfte nachdenken? Über gemeinsame Panzer, Soldaten und Waffen?
Waffen oder Diplomatie: Was hilft Europa gegen Putin? Über diese und weitere Fragen diskutiert die Münchner Runde um 20.15 Uhr im BR Fernsehen. Zu Gast sind:
- Norbert Röttgen (CDU)
- Jamila Schäfer (Bündnis 90/Die Grünen)
- Katja Gloger, Russland-Expertin
- Frank Sauer, Sicherheitsexperte
- Bascha Mika, Journalistin
Bereits Churchill wollte eine Europa-Armee
Die Idee einer eigenen Armee für Europa ist keine neue. Schon Winston Churchill forderte im Jahr 1950 als Reaktion auf die Zuspitzung des Kalten Krieges eine gemeinsame europäische Armee. Einige Jahre später sah alles danach aus, als würde es wirklich zu Europa-eigenen Streitkräften kommen, die Verteidigungsgemeinschaft EVG war verhandelt. 1954 jedoch folgte die Absage der französischen Regierung, die Nationalversammlung lehnte die Ratifizierung des EVG-Vertrags ab.
Doch die Rufe nach einer europäischen Armee sind seither nicht verstummt: Neben Churchill haben über die Jahrzehnte viele weitere mächtige Politiker eine Europa-Armee gefordert - unter ihnen die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Sogar Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte sich in der Vergangenheit für Streitkräfte ausgesprochen, die durch das Europäische Parlament kontrolliert werden.
"Europa müsste ein Bundesstaat werden"
Friedensforscherin Ursula Schröder bezeichnet die Idee einer europäischen Armee als unrealistisch: "Die Entwicklung einer europäischen Armee, die von der EU aufgestellt und geführt wird, wäre eine unfassbar komplizierte und langwierige Aufgabe."
Die politische Integration der EU müsste dafür weitaus fortgeschrittener sein, so Schröder. Die EU habe aktuell "kein militärisches Hauptquartier, keine dafür geeigneten politischen Entscheidungsmechanismen, keinen Oberbefehlshaber". Die Europäische Union müsste "im Prinzip ein Bundesstaat werden, um diese Strukturen und im weiteren Schritt eine Europa-Armee aufbauen zu können", erklärt Schröder.
Auch Politikwissenschaftlerin Puglierin hält eine zukünftige Europa-Armee für unwahrscheinlich: "Das Militär ist das ureigenste staatliche Hoheitsinstrument." Die Debatte um eine gemeinsame Armee würde Europa nicht weiterbringen, "weil wir davon Generationen entfernt sind".
Kooperation statt Verschmelzung
Alternativ schlägt Puglierin den Ansatz der damaligen Verteidigungsministerin und heutigen Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, vor. Diese habe nicht von der "europäischen Armee" gesprochen, sondern von der "Armee der Europäer". "Das klingt jetzt vielleicht nur wie ein kleines Wortspiel", so Puglierin, "aber dahinter steckt der Gedanke, dass wir weiterhin nationale Armeen haben, die viel stärker als bisher miteinander kooperieren".
Ein Beispiel dafür ist die enge Verteidigungszusammenarbeit zwischen Deutschland und den Niederlanden. Das königliche Heer der Niederlande betreibt keine eigenen Panzer, seine Streitkräfte sind stark in die deutschen Streitkräfte integriert. Scholz sprach im März 2023 von einer "weitreichenden gegenseitigen Integration". Die Zusammenarbeit der Streitkräfte der beiden Länder sei "einzigartig in Europa". Auch Politikwissenschaftlerin Puglierin sieht darin den "Weg in die Zukunft": eine "zunehmende Verzahnung der Streitkräfte, eine Herstellung von Interoperabilität, also von der Möglichkeit der engeren Zusammenarbeit".
Ein weiteres Beispiel für Kooperationen hat Scholz 2022 angestoßen: den "European Sky Shield" - einen gemeinsamen Luftverteidigungsschirm. 21 europäische Staaten schlossen sich der Initiative an.
EU hat sechsmal so viele Waffensysteme wie USA
Was laut den Expertinnen zudem möglich wäre, ist eine Verbesserung der gemeinsamen Entwicklung und Beschaffung von Rüstungsgütern in Europa: "Die EU-Mitgliedstaaten haben sechsmal so viele Waffensysteme wie die USA, ist das wirklich notwendig? Kann man das nicht effizienter organisieren?" Das sind laut Schröder zentrale Fragen der europäischen Verteidigungspolitik.
Beschaffungsmaßnahmen und Optimierungen wie diese würden jedoch "nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten gedacht - besonders, wenn es um die Entwicklung militärischer Systeme" gehe.
Trotz des Aufwands und der Kosten, die auf Europa zukommen, ist eine stärkere europäische Zusammenarbeit laut Puglierin und Schröder notwendig und sinnvoll - mit oder ohne Trump als zukünftigem US-Präsidenten. Das Verständnis der Bevölkerung in den USA für eine Unterstützung Europas schwindet laut Puglierin allmählich. "Die US-Amerikaner fragen sich, weshalb sie für Europa - das bevölkerungsmäßig größer ist und aus vielen wohlhabenden Wohlfahrtsstaaten besteht - noch so viel Geld aufwenden sollen." Man müsse sich damit "anfreunden, dass mit oder ohne Trump mehr Druck auf Europa liegen wird", so Puglierin.
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