Die Bundeswehr soll angesichts des rasanten Vormarsches der radikal-islamischen Taliban dabei helfen, deutsche Staatsbürger und Ortskräfte aus Afghanistan zu holen. "Die Sicherheitslage in Afghanistan spitzt sich weiter zu. Wir werden das Auswärtige Amt bei der Rückführung deutscher Staatsbürger und weiterer zu Schützender aus Afghanistan nach Deutschland unterstützen", teilte Verteidigungsminister Annegret Kramp-Karrenbauer mit. "Wir halten hierfür einsatzbereite Kräfte bereit und werden schnellstmöglich erste Kräfte in Marsch setzen." Zu operativen Details könne sie keine Auskunft geben.
Über die Evakuierungsaktion in Afghanistan beriet Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Samstag mit einem Teil ihres Kabinetts in einer Krisensitzung. Ein Regierungssprecher betonte anschließend, das Parlament solle an der Entscheidung beteiligt werden, das genaue Verfahren werde derzeit abgestimmt. Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios wird bereits ein vom Bundestag zu verabschiedendes Mandat vorbereitet.
Mandat des Bundestags notwendig
Die Evakuierungsaktion gilt als mandatierungspflichtig, weil eine Basis für das bisherige Mandat nach dem Ende des Nato-Einsatzes "Resolute Support" als nicht mehr gegeben gilt. Dass es zu diesem Einsatz kommen muss, ist weitgehend unstrittig. Als Mindestvoraussetzung gilt bei Gefahr im Verzug - also wenn es um Leib und Leben von Deutschen im Ausland geht - ein Beschluss des Bundeskabinetts als erster Schritt für einen Einsatz, dem ein Beschluss des Bundestages folgen kann.
In Afghanistan sind derzeit noch deutlich mehr als 100 Deutsche, darunter auch die Diplomaten und Mitarbeiter der Botschaft in Kabul sowie Experten anderer Ministerien und Organisationen. Auch Ortskräfte sollen ausgeflogen werden. Deren genaue Zahl ist aber noch unklar. So haben allein Organisationen aus dem Geschäftsbereich des Bundesentwicklungsministeriums derzeit noch mehr als 1.000 einheimische Mitarbeiter in Afghanistan.
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) hatte bereits am Freitag angekündigt, dass deutsche Botschaftsmitarbeiter und auch afghanische Ortskräfte aus Kabul ausgeflogen werden sollen. Experten haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die afghanischen Helfer und deren Familien in großer Gefahr sind, weil die Taliban sie als "Kollaborateure des Westens" begreifen.
Taliban erobern Masar-i-Scharif und stehen vor Kabul
Auf ihrem Eroberungszug in Afghanistan nahmen die Taliban am Samstag die Großstadt Masar-i-Scharif ein. Dort hatte die Bundeswehr noch bis Juni ihr Hauptquartier. Den Fall der Stadt bestätigten eine Sicherheitsquelle und ein Provinzrat der Deutschen Presse-Agentur. Die afghanische Armee hatte sich zuvor aus Masar-i-Scharif zurückgezogen.
Inzwischen steht die radikalislamische Miliz auch vor den Toren Kabuls, de facto der letzten Bastion der afghanischen Regierungstruppen. Am Samstag lagerten Taliban-Kämpfer nur noch rund 50 Kilometer entfernt von der Hauptstadt.
Rettung der afghanischen Ortskräfte gefordert
FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sagte dem ARD-Hauptstadtstudio, es müsse nun rasch gehandelt werden. Die Bundesregierung sei für die Ortskräfte ebenso verantwortlich wie für deutsche Botschaftsangehörige und müsse daher für einen entsprechenden Schutz sorgen.
Auch CDU-Chef Armin Laschet dringt darauf, dass Deutschland die ehemaligen Ortskräfte der Bundeswehr rettet. "Diese Leute, die uns geholfen haben, Afghanen, die mutig waren, der Bundeswehr zu helfen, müssen jetzt rausgeholt werden", sagte der Unions-Kanzlerkandidat. "Wir können nicht länger zusehen, dass sie dort bedroht werden von Taliban und Fundamentalisten." Laschet forderte namentlich das Auswärtige Amt, SPD und Grüne auf, den Weg für ein schnelles neues Bundeswehr-Mandat des Bundestages freizumachen.
Grünen-Chef Robert Habeck plädierte in der "Süddeutschen Zeitung" für eine "Luftbrücke", um die einstigen Ortskräfte der Bundeswehr vor Lebensgefahr zu bewahren. "Es ist unsere Pflicht, die Menschen vor den Taliban zu retten, die ihr Leben riskiert haben, um unseren Soldatinnen und Soldaten zu helfen", hob der Grünen-Politiker hervor. Habeck forderte, bei den Ortskräften auch solche Menschen mit einzubeziehen, die über Firmen, also nicht direkt für die Bundeswehr oder andere deutsche Institutionen gearbeitet haben.
Linken-Verteidigungspolitiker Alexander Neu sagte dem Portal "Watson", es müssten alle lokalen Mitarbeiter der in Afghanistan tätigen internationalen Organisationen und der Nato samt Familien evakuiert und in die Nato-Staaten verbracht werden.
Röttgen für Bundeswehreinsatz gegen Taliban
Seit Beginn des vollständigen Abzugs der Nato-Truppen aus Afghanistan haben die Taliban weite Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. In den vergangenen acht Tagen nahmen die Islamisten rund die Hälfte der 34 afghanischen Provinzhauptstädte ein, darunter zuletzt auch die zweitgrößte Stadt Kandahar. Am Samstag rückten die Taliban immer näher an die Hauptstadt Kabul heran.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), forderte ein Eingreifen des Westens und der Bundeswehr, um die Taliban zu stoppen. "Man darf nicht dabei zuschauen, wie Menschen, die uns lange verbunden waren, von den Taliban abgeschlachtet werden, wie Mädchen und Frauen alle hart erkämpften Rechte wieder verlieren", sagte Röttgen dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.
Großer Zapfenstreich soll verschoben werden
Die Bundeswehr hatte ihren fast 20 Jahre dauernden Einsatz am Hindukusch Ende Juni mit der Rückkehr der letzten Soldaten beendet. Angesichts der geplanten Evakuierungsmission der Bundeswehr soll der geplante Abschlussappell und Große Zapfenstreich für den bisherigen Einsatz verschoben werden, wie Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer ankündigte. "Für eine sachgerechte Bilanzierung und eine Würdigung ist vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Afghanistan jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Die volle Aufmerksamkeit gilt der Evakuierung der zu Schützenden."
Am 31. August sollte es im Bendler-Block, dem Sitz des Verteidigungsministeriums in Berlin, zunächst eine Kranzniederlegung, einen Appell und Gespräche von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Hinterbliebenen und Angehörigen geben. Danach war der Zapfenstreich vor dem Reichstagsgebäude geplant.
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