Frau schlägt Hände vor dem Kopf zusammen
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Am meisten fürchten sich Menschen in Deutschland derzeit vor hohen Preisen, unbezahlbarem Wohnraum und Steuererhöhungen oder Leistungskürzungen.

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Dauerkrisen: Wie den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken?

Dauerkrisen: Wie den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken?

Viele Menschen nehmen die Gesellschaft laut einer Studie als zu egoistisch wahr. Zudem nagen die verschiedenen Krisen an der Identität der Gesellschaft. Wo es laut Experten hakt beim Miteinander – und was sich dagegen tun lässt.

Über dieses Thema berichtet: Münchner Runde am .

Der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland wird momentan auf eine harte Probe gestellt. Zu dem Ergebnis kommen Forschungsgruppen, die die Stimmung in Deutschland systematisch untersuchen. "Seit die Pandemie das Land heimgesucht hat, ist Deutschland von vielen Krisen geplagt: Ukraine-Krieg, Migrationsprobleme, Klimawandel", erklärt Stephan Grünewald, Psychologe und Gründer des Markt- und Medienforschungsinstituts "Rheingold" in Köln. Das befragt im Jahr rund 6.000 Menschen, um herauszufinden, wie es den Deutschen wirklich geht.

Stephan Grünewald sagt: "Die Krisen haben eine Zombie-Qualität: Die Menschen nehmen sie als ewige Wiedergänger wahr. Das weckt bei den Menschen große Ohnmachtsgefühle."

Wegen Dauerkrisen-Modus: Keine Reflexion der Corona-Krise

Ähnlich sieht das auch Laura-Kristine Krause, Geschäftsführerin von "More in Common". Sie meint, die Deutschen seien wegen neuer Krisen nach der Pandemie zur Tagesordnung übergegangen und hätten die Pandemie und die politischen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung nicht gesellschaftlich reflektiert. "Dabei war das Vertrauen in die Demokratie schon vor Corona innerhalb der Gesellschaft sehr unterschiedlich ausgeprägt", so Krause.

"More in Common" ist eine Forschungsorganisation, die die Stimmung in der Gesellschaft ebenfalls systematisch untersucht und daran anknüpfend das Ziel verfolgt, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Den hat die Organisation Mitte August 2023 zuletzt mit mehr als 2.000 Befragungen untersucht.

Studie: Menschen empfinden Gesellschaft als egoistisch

Eine Erkenntnis: Die Befragten nehmen die Gesellschaft überwiegend als zu egoistisch wahr – 79 Prozent stimmten der Aussage zu: "Jeder kümmert sich um sich selbst." Hinzu kommen ein breit geteiltes gesellschaftliches Ungerechtigkeitsempfinden und eine Unzufriedenheit mit der Regierung.

Krause stellt dazu fest: "Angesichts der vielen Krisen und Veränderungen wünschen sich die Menschen mehr Orientierung von der Politik, als noch vor einigen Jahren. Weil sie diese von der Politik nicht in dem Maße bekommen, wie sie sie brauchen, gehen sie mit der Bundesregierung hart ins Gericht – man könnte sagen, zu hart."

Welche Ängste plagen die Menschen in Deutschland?

Stephan Grünewald und sein Team am Kölner Rheingold-Institut haben vier zentrale Ängste ausgemacht, die die Menschen in Deutschland aktuell plagen. Auf Platz eins sieht Grünewald dabei die Angst vor der Ohnmacht: "Durch die Pandemie haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir verletzungsanfällig sind und manche Gefahren nicht im Griff haben, die wir nicht mal sehen, schmecken oder riechen können."

Darüber hinaus nennt Grünewald die Angst vor dem deutschen Substanzverlust. "Vieles, auf das man in der Vergangenheit stolz war, ist fast porös oder marode geworden: Sind wir noch Exportweltmeister? Man weiß nicht, ob die Bundeswehr einsatzfähig ist. Dazu der Pisa-Schock, die Verkehrsinfrastruktur wird beklagt. Auch die Nationalelf hat in den letzten Jahren die meisten Menschen nicht mit Stolz erfüllt."

Neues Gemeinschaftsgefühl durch die Fußball-EM?

An dieser Stelle sieht Grünewald einen Ansatzpunkt, wie die Stimmung in Deutschland wieder besser werden kann: "Das visionäre Vakuum muss in Deutschland wieder gefüllt werden", fordert er. Das könne zum Beispiel durch ein erfolgreiches Abschneiden der Fußball-Nationalmannschaft der Männer bei der Europameisterschaft im eigenen Land geschehen, wenn auch nur zeitweise. "Jeder hat das Gefühl in magischer Art und Weise durch das Daumendrücken, Fahnen schwenken und anfeuern einen Beitrag zu leisten, dass die Mission gelingt", so Grünewald. Für das Zusammensein der Gesellschaft sei es auch wichtig, dass wieder mehr Begegnungsräume entstehen.

Politische Gräben überwinden: Raus aus den "Meinungssilos"

Zudem müssten politische Gräben überwunden werden, die in den vergangenen Jahren immer tiefer wurden: Das kann auch auf der Familienfeier mit dem Onkel passieren, der sich als AfD-Wähler geoutet hat. "Es ist ganz wichtig, dass wir bereit sind, im Gespräch zu bleiben. Dass wir bereit sind, auf andere zuzugehen, auch wenn sie anstrengend oder anderer Meinung sind", findet Grünewald. Oft hätten er und seine Kollegen in Befragungen festgestellt, dass AfD-Anhänger oder -Sympathisanten vom Bekanntenkreis ausgesondert und gemobbt werden. "Dann blieb ihnen der Weg in die bürgerliche Mitte versperrt. Sie hatten dann nur noch die Chance, Halt und soziale Stabilität im anderen Lager zu finden", so Grünewald.

Krause von "More in Common" beklagt in diesem Zusammenhang auch den Debattenstil in der Gesellschaft, insbesondere in den sozialen Medien: "Der Stil dort, aber auch in der öffentlichen Debatte, ist meist schwarz-weiß. Entweder hat die eine oder die andere Seite recht. Die Zwischentöne, die die meisten Menschen von uns haben, gehen dabei oft unter." Wieder mehr Zwischentöne zulassen. Kontroverse Diskussionen abseits der WhatsApp-Gruppe, sondern im Familien- und Bekanntenkreis führen: Das könnte ein Anfang sein, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt wieder zu stärken.

"Nur noch Krise überall? Woher kommt der Pessimismus?“ Darüber diskutiert auch die Münchner Runde am Mittwochabend, 17. April ab 20.15 Uhr im BR Fernsehen oder hier bei BR24. Zu Gast sind Laura-Kristine Krause, Geschäftsführerin "More in Common“, Eckart von Hirschhausen, Arzt und Wissenschaftsjournalist, Ilse Aigner (CSU), Präsidentin des bayerischen Landtags, Ronja Ebeling, Journalistin und Autorin, Carlo Masala, Politikwissenschaftler und Manfred Gößl, Hauptgeschäftsführer IHK München und Oberbayern.

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