Archivbild: Raketenwerfer MARS II
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Deutsche Waffen gegen Ziele in Russland: Was das Ja bedeutet

Erst ein Nein, dann eine unklare Haltung, jetzt das Go: Die Bundesregierung erlaubt der Ukraine, deutsche Waffen gegen Ziele auf russischem Boden einzusetzen. Allerdings mit Einschränkungen. Ein Militär-Experte ordnet ein, was das konkret heißt.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Erst haben die USA umgeschwenkt, nun ist Deutschland gefolgt: Zur Verteidigung der ostukrainischen Stadt Charkiw darf Kiew westliche Waffensysteme auch gegen Ziele auf russischem Boden einsetzen.

"In den letzten Wochen hat Russland insbesondere im Raum Charkiw von Stellungen aus dem unmittelbar angrenzenden russischen Grenzgebiet heraus Angriffe vorbereitet, koordiniert und ausgeführt", teilte Regierungssprecher Hebestreit mit. Nach Angaben des örtlichen Gouverneurs von Charkiw sind erst heute fünf Menschen bei einem russischen Angriff in der Stadt getötet worden.

Man sei der Überzeugung, dass die Ukraine das völkerrechtlich verbriefte Recht habe, sich gegen diese Angriffe zu wehren, so Hebestreit. "Dazu kann sie auch die dafür gelieferten Waffen in Übereinstimmungen mit ihren internationalen rechtlichen Verpflichtungen einsetzen; auch die von uns gelieferten".

Um diese Waffensysteme geht es

Wie Verteidigungsminister Pistorius heute bestätige, gelte das OK für "alle Systeme, die wir geliefert haben". Konkret dürften drei im Fokus stehen: die Panzerhaubitze 2000, der Raketenwerfer MARS II und das Patriot-Abwehrsystem. Wie groß ist der Einfluss der deutschen Entscheidung? Wenn man Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations fragt: eher gering.

"Die Panzerhaubitze 2000 ist eins von vielen westlichen Artilleriesystemen", erklärt Gressel. Wenn Deutschland sie nicht freigeben hätte, hätte die Ukraine französische, britische oder amerikanische Systeme an die Grenze verlegen können, so der Militär-Experte. Ähnliches gelte für das Artillerieraketensystem MARS II.

Beim Patriot-Abwehrsystem spiele Deutschland als Lieferant dagegen eine große Rolle, erläutert Gressel. "Patriots könnten russische Jagdbomber, die Charkiw mit Gleitbomben angreifen, über russischem Gebiet abfangen und abschießen." Allerdings schränkt der Experte für Sicherheitspolitik auch hier ein: Zurzeit nutze die Ukraine Patriots im Raum Charkiw nicht. "Es ist aus ukrainischer Sicht zu gefährlich, diese Systeme dort einzusetzen aufgrund der regen russischen Aufklärungsdrohnen-Tätigkeit." Kiew könnte seine Strategie hier aber noch ändern.

Insgesamt, fasst Gressel zusammen, seien die deutschen Waffen "nicht von zentraler Bedeutung". Deutschland sei in dieser Frage nicht der Staat, auf den es primär ankomme, weil Berlin keine Waffen mit großer Reichweite liefere.

Welche Ziele angegriffen werden könnten

Auch wenn deutsche Systeme keine große Rolle spielen sollten, so gibt es andere westliche Waffen, mit denen Kiew Ziele in Russland angreifen könnte. Zu denen gehören laut Gressel "in erster Linie Artilleriestellungen und Truppenkonzentrationen auf der anderen Seite der Grenze, in zweiter Linie auch Fernwaffen, die nach Charkiw beziehungsweise in die Ukraine hineinwirken." Als Beispiel nennt er die Flugabwehrraketen S-300, die auch einen Boden-Angriffsmodus haben und gegen zivile Ziele eingesetzt werden, über Beschuss von russischen Iskander-Raketen-Stellungen bis zu Angriffen auf Luftwaffenbasen. Da sei aber derzeit noch unklar, "wie weit die Ukraine solche Ziele genehmigt bekommt".

Diese Fragen würden in einem eigenen militärischen Kommando geklärt, erklärt Gressel. "Es gibt im Grunde täglich Konferenzen mit unterschiedlichen ukrainischen Kommandostellen, die ihre Schläge durchführen und ihre Feuer-Unterstützungspläne mit den westlichen Verbindungsoffizieren besprechen." Für Gressel ist klar, die Entscheidung der USA und Deutschland ist "kein Freibrief, auf alles schießen zu können". Die Ziele würden im Vorhinein abgeklärt werden. Denn es sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht klar, welche genauen Vorgaben die USA zur Nutzung ihrer Waffen machen werden.

Strack-Zimmermann: Ein weiteres Nein wäre "geradezu fatal"

Inwiefern die Entscheidung in Washington und Berlin das Kriegsgeschehen beeinflusst, hänge davon ab, "wie weit und welche Ziele freigegeben werden", glaubt Gressel. Wenn Kiew beispielsweise auch Munitionsdepots angreifen dürfe, hätte dies größere Auswirkungen, weil das die russische Infrastruktur und Logistik erheblich behindern würde. Wäre die Erlaubnis nicht derart weitreichend, dürfte das Go zumindest die Verteidigung von Charkiw erleichtern.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, äußerte sich heute zu diesen Einschränkungen: Die Ukraine dürfte nur militärische Ziele angreifen – "und zwar ausschließlich". Das sei genau das, was Russland nicht mache, sagte Strack-Zimmermann und verwies auf den russischen Angriff auf einen Baumarkt in Charkiw. Dass Bewegung in die Frage nach dem Einsatz westlicher Waffen gegen Ziele in Russland gekommen war, begrüßte die FDP-Politikerin. "Aus der Sicht der Ukraine ist es fast zynisch, wenn wir das nicht unterstützen". Wenn sich die Ukraine nicht adäquat verteidigen kann, sei das "geradezu fatal".

Warum Berlin seine Haltung änderte

Im Laufe der Woche war lange nicht klar, was die deutsche Haltung in der Frage ist. "Die Linie war klar, dass Scholz wartet, wie sich Biden entscheidet", sagt Gressel vom European Council on Foreign Relations. Nach der Kursänderung der USA zog Berlin nach. "Deutschland hätte sich innerhalb des Nato-Bündnisses schon schwer ins Abseits gestellt, wenn es auf der alten Linie geblieben wäre", glaubt Gressel. Dass sich die Verantwortlichen so unbestimmt geäußert haben, sei "ein klares Zeichen, dass man auf Washington wartet und dann schaut, wohin der Hase läuft."

Wie die Entscheidung aufgenommen wird

Der ukrainische Präsident Selenskyj kritisierte das Zögern der westlichen Partner in der Frage. "Es ist absolut unlogisch, dass wir [westliche] Waffen haben und Mörder und Terroristen sehen, die uns von der russischen Seite töten", sagte er dem britischen Guardian. "Für die ist es wie eine Jagd, eine Jagd nach Menschen. Sie verstehen, dass wir sie sehen, aber nicht erreichen können."

Kanzler Scholz verteidigte die Entscheidung auf dem Katholikentag in Erfurt. "Wir müssen den großen Krieg vermeiden – den Krieg zwischen Russland und der Nato." Gleichzeitig müsse Deutschland sicherstellen, "dass die Ukraine ihre Unabhängigkeit und Souveränität verteidigen kann." Verteidigungsminister Pistorius sprach von einer "richtigen Entscheidung" und begründete sie mit einer strategischen Lageanpassung. So sei man seit Beginn des Krieges stets vorgegangen.

Kritik gab es bereits vor der Entscheidung. So sprach Sahra Wagenknecht gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland beispielsweise von einem "nächsten gefährlichen Tabubruch". Linken-Parteichefin Janine Wissler nannte die Forderungen im Interview mit den Funke-Zeitungen "verantwortungslos und hochgefährlich".

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