"In diesem Moment frage ich mich, ob die Menschen auf der ganzen Welt, die unser Elend miterleben und beobachten, so weit sind, dass sie uns nur noch als Nachrichten betrachten."
Seit Kriegsbeginn schreibt der 35-jährige Ziad für den britischen "Guardian" ein Gaza-Tagebuch https://www.theguardian.com/global-development/series/gaza-diary (externer Link, möglicherweise Bezahlinhalt) In unregelmäßigen Abständen, alle zwei, drei Tage, schildert er, was er sieht, erlebt, hört, empfindet. Über die Angst, Nachrichten auf seinem Handy zu lesen, könnten sie doch erneut den Tod naher Freunde und Verwandten beinhalten; über das Gefühl, eingesperrt zu sein in einem "immer schlimmer werdenden Albtraum"; über die Stunde, in der er um 20 Jahre gealtert sei, bei der Nachricht, dass sein Zuhause schwer beschädigt wurde.
Das Einzige, was schlimmer sei als völlige Verzweiflung, sei "Verzweiflung gemischt mit Hoffnung", schreibt Ziad Ende Januar, dessen Nachname der "Guardian" nicht nennt, um ihn zu schützen. Es sei, als würde man den Kopf unter Wasser halten, um zu ertrinken, und dann den Kopf für ein paar Sekunden hochziehen, um Luft zu holen, und ihn dann wieder unter Wasser drücken. "Das ist es, was wir durchmachen, ein bitterer Moment nach dem anderen, mit einem Hauch von Positivem."
"Wir sind keine Zahlen"
Bereits vor neun Jahren gründeten junge palästinensische Autorinnen und Autoren aus Gaza eine eigene Webseite, die sie "we are not numbers" https://wearenotnumbers.org/ (externer Link, möglicherweise Bezahlinhalt) "wir sind keine Zahlen" nannten. Die Intention: In englischer Sprache über ihren Alltag zu schreiben, über ihre Hoffnungen und Träume, über den Tod naher Angehörigen und Freunde. Es sind eindringliche, anspruchsvolle Texte, in denen sich seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober und der israelischen Militäroffensive wiederfinden lassen, in welchen Facetten der Krieg alles, was die Menschen zuvor kannten, auf den Kopf gestellt hat. Eine der Autorinnen ist Haya Abu Nasser, die mit ihrer Familie innerhalb der ersten 40 Kriegstage viermal ihre Bleibe verlassen musste. Zwischenzeitlich lebte sie in einem selbst errichteten Zelt in äußerten Westen von Khan Younis, um dann weiter nach Rafah zu fliehen, in den südlichsten Zipfel des Kriegsgebiets.
In "düsteren Nächten", wenn sie zum Himmel schaue und das "ständige Brummen der Militärflugzeuge über uns" sie an den Tod "unserer Kinder, Freunde und Verwandte" erinnere, versuche sie, sich ihr Leben vor dem Krieg zu vergegenwärtigen. Die junge Frau schreibt Ende Januar: Sie entferne sich dann "von diesem schrecklichen Moment des Krieges und des Leids". Sie rieche die frische Luft, erinnere sich an das Lächeln ihrer Freunde, "den Duft des Meeres und den Morgentau, als ich mit meinen Stöckelschuhen und dem nach Jasmin duftenden Parfüm zur Arbeit ging". Sie rieche den Duft des heißen Kaffees am Morgen im Büro. Sie vermisse sogar die nervigen Geräusche ihrer Nachbarn, die ihre Kinder anschrien, um sie für die Schule zu wecken. "Unsere vertraute Nachbarschaft wurde zerstört, und unsere freundlichen Nachbarn wurden getötet."
Israelisch-palästinensisches Online-Journal
Zu den wenigen gemeinsamen Online-Publikationen, an denen sich israelische und palästinensische Journalisten beteiligen, gehört die Webseite "+972" https://www.972mag.com/ (externer Link, möglicherweise Bezahlinhalt). Der großen Mehrzahl der Israelis gilt das Portal, benannt nach der internationalen Ländervorwahl für Israel und die palästinensischen Gebiete, als ganz offen pro-palästinensisch, einseitig und parteiisch. Es bietet allerdings direkte Einblicke in die katastrophalen Zustände, in denen die palästinensische Bevölkerung seit vier Monaten lebt.
Zusammen mit schätzungsweise einer Million Flüchtlingen hält sich die 55-jährige Khalida Abu Ras mit ihren Kindern und Enkel auf. Seit Kriegsbeginn sei sie obdachlos. Ihr Haus in Beit Hanoun ganz im Norden des Gaza-Streifens habe sie mit der einsetzenden Militäroffensive umgehend verlassen müssen: "Tag und Nacht war die Gegend von Feuergürteln umgeben." Sie sei mit ihren fünf Kindern und ihren Enkeln "vor dem Tod geflohen".
Auf der Flucht bis ganz in den überfüllten Süden nach Rafah seien zwei Dinge stets präsent gewesen: Es habe keine Pause von den israelischen Bombenangriffen oder Truppen gegeben, und es habe ein großer Mangel an Nahrungsmitteln geherrscht. Auch in Rafah habe sich daran nichts geändert: "Alle drei Tage erhalten wir Lebensmittelhilfe, aber es ist nur eine Hilfe - eine einfache Mahlzeit, die eine 15-köpfige Familie nicht satt macht." Die Preise seien rasant in die Höhe geschossen. Ein Kilo Salz koste jetzt 20 Schekel, vor dem Krieg nur einen einzigen Schekel, umgerechnet fünf Euro statt 25 Cent. Mit anderen Grundnahrungsmitteln wie Mehl oder Reis sei es genauso.
Eine Tomate wiegen lassen
In seinem Gaza-Tagebuch, das der "Guardian" mit Kriegsbeginn veröffentlichte, schildert der 35-jährige Autor Ziad eine Szene, die sich vor dem Gemüsestand eines Mannes zugetragen habe. Eine Frau habe sich dem Händler genähert, aber sie habe gezögert. "In unserer Kultur kauft man Gemüse und Obst in Kilos. Aber die Frau nahm eine Tomate und bat ihn, sie zu wiegen und ihr den Preis zu nennen." Dann habe sie eine zweite Tomate dazugetan und erneut wiegen lassen. Nachdem sie den Preis gehört habe, habe sie ihr Portemonnaie geöffnet, hineingeschaut und gesagt, dass sie nur eine Tomate nehmen würde. "Der Mann, mit dem ich sprach, nahm drei Tomaten, gab sie der Frau und bezahlte die Verkäuferin."
Was ihn am meisten schmerze, habe der Mann zu Ziad gesagt, sei, dass man jetzt Zitronen kaufen müsse. "In unserem Land hatten wir viele große Zitronenbäume. Wir mussten nie welche kaufen." Nachbarn und Freunde seien zu ihm gekommen, um Zitronen zu holen. Es stimme, "dass wir unsere Häuser und alles, was wir haben, verloren haben. Aber der Verlust dieser Bäume hat einen tiefen Eindruck auf meine Seele gemacht. Es ist einfach zu schwer, zu schwer". Zum ersten Mal würde er darüber nachdenken, Gaza für immer zu verlassen.
Im Video: Netanjahu setzt auf vollständigen Sieg gegen Hamas
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