Russland darf seinen Angriffskrieg in der Ukraine nicht gewinnen, die Ukraine muss als Staat überleben - dieser Aussage dürften die meisten europäischen Regierungschefs zustimmen. Aber was heißt "nicht gewinnen"? Wie genau sollte die Ukraine bei ihrem Überlebenskampf unterstützt werden? Diese Fragen beantworten die Regierungen in Europas Ländern schon nicht mehr ganz so einheitlich.
Wenn sich am heutigen Freitag Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Donald Tusk treffen, wird die Lage in der Ukraine das zentrale Thema sein. "Deutschland, Frankreich und Polen hatten seit Kriegsbeginn sehr unterschiedliche Ansätze mit Blick auf die Ukraine", sagt Sicherheitsexperte Rafael Loss auf BR24-Anfrage. Loss arbeitet beim "European Council on Foreign Relations" in Berlin. Was also wollen die Regierenden der drei Länder? Und was wollen andere europäische Staaten?
Deutschland: Viel Unterstützung, viele Debatten
Vertreter der Bundesregierung betonen seit mehr als zwei Jahren, dass Deutschland an der Seite der Ukraine stehe. Nach anfänglichem Zögern brachten SPD, Grüne und FDP umfangreiche Waffenlieferungen und zivile Unterstützung für das angegriffene Land auf den Weg. Immer wieder wurde dabei kontrovers über einzelne Waffensysteme diskutiert – wie aktuell bei den Taurus-Marschflugkörpern, die Kanzler Scholz nicht liefern möchte. Dafür betont er mit Blick auf Frankreich, dass Deutschland innerhalb Europas den größten Teil der Militärhilfe für die Ukraine leiste.
Schon die Taurus-Debatte innerhalb der Ampel zeigt: Die drei Koalitionäre in Deutschland sind sich längst nicht immer einig, wie viel militärische Hilfe richtig ist. Während Verteidigungspolitiker von Grünen und FDP, wie Anton Hofreiter und Marie-Agnes Strack-Zimmermann, nachdrücklich immer mehr Waffen für die Ukraine fordern, äußern sich viele Sozialdemokraten zurückhaltender.
"Allgemein gilt: Wie die Bundesregierung auf diesen Krieg blickt, hat sich in den vergangenen zwei Jahren nicht groß verändert", sagt Sicherheitsexperte Loss. Er erinnert aber daran, dass es anfangs große Zweifel gab, ob die Ukraine gegen die russische Invasion bestehen kann. "Es hat gedauert, bis man in Berlin verstanden hat, dass die westliche Unterstützung für die Ukraine entscheidend ist."
Frankreich: Sicherheitsabkommen – aber auch Befürchtungen
In Frankreich ist die Situation unübersichtlicher als in Deutschland, weil der extrem rechte Rassemblement National (RN) als stärkste Oppositionskraft lange mit Russland verbunden war oder noch immer ist. Zuletzt versuchte Staatschef Emmanuel Macron, einen überparteilichen Konsens mit Blick auf die Ukraine herzustellen. Doch ein Treffen der verschiedenen Parteichefs geriet Berichten zufolge zum Beweis der Uneinigkeit: Während Macron weiter europäische oder Nato-Bodentruppen in der Ukraine nicht ausschließen will, ist die französische Opposition nahezu geschlossen dagegen.
Für ein Sicherheitsabkommen mit der Ukraine, das bereits unterzeichnet war, fand sich Anfang der Woche in der französischen Nationalversammlung eine klare symbolische Mehrheit. Das Abkommen hält beispielsweise fest, dass die Ukraine perspektivisch EU und Nato beitreten soll. Bei der Debatte sagte Premierminister Gabriel Attal: "Dieser Krieg hat schon jetzt seinen Preis, aber er würde ins Unermessliche steigen, wenn Russland die Ukraine besiegen würde." Bei "Possoch klärt" äußerte sich Verteidigungsexperte Christian Mölling zuletzt ähnlich: Man erkenne bei Russland "einen dauerhaften Willen, Grenzen in Europa durch Waffengewalt, also durch Kriege, zu verändern".
Frankreich: Zustimmung zu Militärhilfe bröckelt
"Frankreich hat in der Wahrnehmung des Ukraine-Kriegs den weitesten Weg zurückgelegt", betont Loss. "Am Anfang hat Emmanuel Macron noch erklärt, Russland dürfe nicht verlieren, man dürfe das Land nicht blamieren. Das klingt heute viel offensiver, nicht mehr so demütig. Inzwischen unterstützt Frankreich die Ukraine militärisch qualitativ deutlich mehr, auch mit Marschflugkörpern."
Die konservativen Republikaner vermuten hinter Macrons Bodentruppen-Äußerungen allerdings Wahlkampftaktik für die Europawahl im Juni. Falls das stimmt, ist der Erfolg fraglich: Laut einer Umfrage des Instituts CSA wollten in Frankreich zuletzt nur noch 43 Prozent der Befragten die militärische Unterstützung der Ukraine fortsetzen. Vor einem Dreivierteljahr waren es noch 52 Prozent.
Polen: "Bruderstaat" Ukraine, trotzdem Ärger
Das polnische Verhältnis zur Ukraine ist in militärischer Hinsicht klar: Warschau unterstützt das angegriffene Nachbarland nach Kräften. Wie inzwischen auch Frankreich fordert Polen, dass die Ukraine wieder in ihren Grenzen von 1991 als Staat existiert, inklusive der von Russland völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim. "Gleich am Anfang des Kriegs hat die polnische Regierung der Ukraine hunderte Panzer und gepanzerte Fahrzeuge zur Verfügung gestellt, sogar Flugzeuge", betont Loss. "Das hat entscheidend geholfen, die ersten Kriegsmonate zu überstehen."
Polen hat seit Kriegsbeginn, wie Deutschland, Hunderttausende Kriegsflüchtlinge aufgenommen. Der Grund für all diese Unterstützung laut dem Sicherheitsexperten: "In Polen wird Russland nochmal viel mehr als Bedrohung für das eigene Land wahrgenommen als in Deutschland oder Frankreich." Das Land hat ein großes Interesse daran, dass Russland den polnischen "Bruderstaat" Ukraine nicht einnimmt: Die ukrainisch-polnische Grenze ist gut 500 Kilometer lang.
Unbelastet ist das Verhältnis aber nicht. Besonders wegen ukrainischer Agrar-Importe, die viele polnische Landwirte vehement ablehnen. Unter der früheren rechtskonservativen polnischen Regierung kam es immer wieder zu diplomatischen Sticheleien. Das klingt jetzt wieder anders: Polens neuer Regierungschef Tusk kündigte jüngst eine gemeinsame Waffenproduktion beider Länder an. Der liberale Politiker versucht einen Spagat: "Die Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen Russland steht außer Frage. Wir sollten aber auch polnische Landwirte und den polnischen Markt vor negativen Folgen der Grenzöffnung für Agrar-Produkte schützen."
Baltische Staaten: Bedroht durch Russland
Besonders bedroht durch Russland fühlen sich die drei baltischen Staaten: Estland, Lettland und Litauen. Sie rüsten seit dem Überfall auf die Ukraine auf, auch die Nato stärkt im Baltikum ihre Ostflanke. Lettland und Litauen schließen nicht aus, eigene Bodentruppen in die Ukraine zu schicken – anders als viele andere Staats- und Regierungschefs in Europa.
Für die baltischen Länder besonders wertvoll: Mit Schweden und Finnland gibt es zwei neue Nato-Mitglieder in unmittelbarer Nähe. "Man darf das nicht unterschätzen: Diese beiden Staaten haben ihre mehrere hundert Jahre lange Tradition militärischer Unabhängigkeit aufgegeben", betont Loss. "Man hat dort früher gedacht: Neutral sein heißt sicher sein. Das hat sich fundamental geändert. Neutralität und Bündnisfreiheit bedeutet eben keine Sicherheit, wenn Russland der Nachbar ist."
Bleibt von den klaren Ukraine-Unterstützern die zweite europäische Atommacht neben Frankreich: Großbritannien. "Die britische Rolle in Europa ist nicht zu unterschätzen", sagt Verteidigungsexperte Loss. "London und Paris sprechen sich häufig ab, was die militärische Unterstützung angeht – zum Beispiel bei der Lieferung von Panzern oder jüngst bei den Marschflugkörpern. Das geschieht auch in der Hoffnung, durch gemeinsame Vorstöße die Bundesregierung ebenfalls zu überzeugen." Auch die Niederlande hätten immer wieder Akzente gesetzt, zum Beispiel bei Kampfflugzeugen.
Ungarn und Slowakei scheren (rhetorisch) aus
Kritische Töne zur europäischen Ukraine-Unterstützung kamen zuletzt aus der Slowakei – und dauerhaft von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán. Er lässt sich seine Zustimmung in der EU und in der Nato teuer abkaufen. "Dem schwedischen Nato-Beitritt hat Orbán erst zugestimmt, als der schwedische Premierminister nach Budapest gefahren ist und schwedischen Waffenlieferungen an Ungarn grünes Licht gegeben hat", sagt Loss.
Der Sicherheitsexperte glaubt zwar nicht, dass alle ungarischen Schritte mit Moskau abgesprochen seien. "Aber es gibt sicher eine gewisse gegenseitige Wertschätzung und eine ideologische Nähe, zum Beispiel bei der ausgehöhlten Rechtsstaatlichkeit. Und es spielt Putin natürlich in die Hände, wenn innerhalb der EU und der Nato immer wieder ein Mitgliedsland Unruhe stiftet."
Schweiz: Neue Friedensinitiative im April?
Ein letzter Aspekt ist Loss noch wichtig im BR24-Gespräch: die Rolle der Schweiz. "Einerseits hat die Schweiz anderen europäischen Ländern Reservepanzer verkauft, damit die aus ihren Beständen Panzer an die Ukraine liefern konnten." Andererseits bemühe sich die Schweizer Diplomatie, die Friedenspolitik für die Ukraine voranzutreiben. "Voraussichtlich im April soll es eine große internationale Friedenskonferenz geben, auch mit Ländern aus Afrika und Südamerika. Die Hoffnung ist, dass auch Länder wie China da endlich eine produktive Rolle übernehmen."
Vom Scholz-Macron-Tusk-Treffen erwartet Loss eine neue öffentliche Einigkeit der drei europäischen Staaten. "Die Ukraine ist aktuell militärisch in einer echten Notlage. Auch weil die USA wegen der Blockade der Republikaner inzwischen nicht mehr so unterstützen wie früher." Besonders bei der Munition bleibt die Situation dramatisch. Bei "Possoch klärt" betonte zuletzt Militärexperte Gustav Gressel, wie Rafael Loss vom "European Council on Foreign Relations": Anders als Russland habe man sich im Westen in den ersten beiden Kriegsjahren "stur nicht auf einen langen Krieg eingestellt".
Mit Informationen von AFP
Karte: Die militärische Lage in der Ukraine
Audio: Französische Nationalversammlung debattiert über Ukraine-Politik
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