29.10.2023, Palästinensische Gebiete, Flüchtlingslager Bureij: Ein Palästinenser inspiziert die Zerstörung rund um die Al-Bilal-Moschee im Flüchtlingslager Bureij nach israelischen Luftangriffen.
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Nahostkonflikt - Flüchtlingslager Bureij

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Gaza: "Das Gefühl, für die Außenwelt nicht mehr zu existieren"

Gaza: "Das Gefühl, für die Außenwelt nicht mehr zu existieren"

Etwa 1,4 Millionen Menschen sind innerhalb des Gazastreifens geflüchtet. Ihre Not ist groß - am Wochenende kommt es zu Plünderungen in Lagern des UN-Hilfswerks. Die Organisation fordert sofortige Hilfslieferungen – doch dazu kommt es nur vereinzelt.

Es sind Bilder der Verzweiflung, die am Wochenende aus der Stadt Deir el-Balah im Zentrum des Gazastreifens öffentlich werden. Sie zeigen Menschen, die ein Lager des UN-Hilfswerks (UNRWA) plündern. Ein Mann erklärt, es fehle an Mehl und Wasser, es gebe keine Toiletten, niemand kümmere sich um die Geflüchteten: "Wir brauchen Hilfe. Wir hätten das hier doch nie getan, wenn wir nicht so in Not wären."

UNRWA-Direktorin: "Menschen trinken schmutziges Wasser"

Diese Notlage beschreibt auch Marta Lorenzo, Direktorin der europäischen Vertretung des UN-Hilfswerks in Brüssel, im Interview mit dem ARD-Brennpunkt. Man könne den nach Angaben der UN 671.000 Menschen, die in 150 Einrichtungen des Hilfswerks derzeit Schutz suchen, kaum Hilfe in Form von Lebensmitteln, Wasser und weiterer Grundversorgung anbieten.

"Wir sehen, dass Zehntausende Menschen in zwei unserer Lager eingedrungen sind. Eines in der Mitte des Gazastreifens, ein weiteres im Süden. Sie haben versucht, an Weizenmehl und Hygieneartikel zu gelangen. Wir sehen Menschen in Verzweiflung", erklärt Lorenzo. "Sie sind hungrig, sie trinken schmutziges Wasser und haben buchstäblich nichts mehr, drei Wochen nach Beginn des Kriegs."

Israel greift weiter Infrastruktur der Hamas an

Der Krieg begann am 7. Oktober mit dem terroristischen Überfall der militant-islamistischen Hamas auf Israel. Seitdem reagiert Israels Armee mit Angriffen auf die Infrastruktur der Hamas, die den Gazastreifen seit 2007 kontrolliert. Israel fordert die Zivilbevölkerung seit Beginn des Krieges auf, den Norden des Gazastreifens zu verlassen. Von dort aus werden die meisten Raketenangriffe auf Israel abgefeuert.

In der Region in und um die Stadt Gaza leben weit über eine Million Menschen. Dort halten sich nach Schätzungen der UN derzeit noch etwa 117.000 Menschen in den zehn Krankenhäusern oder in deren direkter Nähe auf.

Karte: Übersicht des Gazastreifens mit Hervorhebung aktueller Geschehnisse

UN: Etwa 1,4 Millionen Binnenflüchtlinge im Gazastreifen

Der Großteil aber, laut UN etwa 1,4 Millionen Binnenflüchtlinge, ist dem Aufruf gefolgt und in den südlichen Teil geflüchtet – auch aufgrund der Versorgungslage. Als Reaktion auf den terroristischen Angriff mit mehr als 1.400 Toten und der Gefangennahme hunderter Geiseln hat Israel die Versorgung des Gazastreifens mit Wasser und Elektrizität eingestellt. Inzwischen ist ein Teil der Wasserversorgung laut israelischer Armee wiederhergestellt. Gebraucht wird aber weiterhin Treibstoff für den Betrieb der Entsalzungsanlage. Die Versorgungslage sei insgesamt katastrophal, erklären Hilfsorganisationen.

Nur wenige Lastwagen mit Hilfsgütern kommen im Gazastreifen an

"Wir haben fast nichts mehr übrig", erklärt UNRWA-Direktorin Lorenzo. "Wir reden über wenige Lastwagen, die täglich in den Gazastreifen fahren dürfen. Etwa ein Dutzend, das ist nichts, verglichen mit mehr als 500 Trucks, die früher jeden Tag passieren durften. Darunter waren auch viele mit Treibstoff." Die seien auch jetzt dringend nötig, so Lorenzo. "Ohne Treibstoff können Bäckereien und Wasserpumpen nicht betrieben werden. Bald werden Menschen auch deswegen sterben."

Insgesamt 117 Lastwagen mit Hilfsgütern durften seit dem 21. Oktober die Grenze zum Gazastreifen überqueren. In der vergangenen Nacht waren es 33, der bislang größte Konvoi.

Probleme mit Internet und Telefonverbindung erschweren Lage

Hinzu kommt seit dem Wochenende ein weiteres Problem. An vielen Stellen im Gazastreifen fällt das Internet aus, Telefonverbindungen brechen zusammen – teils tagelang. Die Koordination von Hilfslieferungen sei so vollständig zum Erliegen gekommen, erklärt Lorenzo: "Am Samstag hätten wir einen Konvoi erwartet. Ohne Kommunikation aber ist es unmöglich, die Durchfahrt mit allen Beteiligten zu organisieren. Also kam keine Hilfe."

Die Zivilbevölkerung sei außerdem im Unklaren darüber geblieben, wie es Freunden und Familienmitgliedern geht – in einer Phase, in der Israel die Angriffe auf den Gazastreifen weiter intensiviert habe. "Viele haben das Gefühl", so Lorenzo, "dass sie für die Außenwelt gar nicht mehr existieren."

So schildert es Gaza-Bewohner Hamza Al-Shami im Interview mit der ARD: "Wir waren von der Welt abgeschnitten. Unser Leben war für niemanden mehr sichtbar. Niemand wusste über unsere Situation Bescheid, auch nicht unsere Familien, unsere Verwandten. Es war ein schwieriges Gefühl, 48 Stunden lang. Es waren bislang die härtesten Tage."

ARD-Mitarbeiterin: "Isoliert von der Welt"

Auch von einer Mitarbeiterin der ARD bleibt lange ein Lebenszeichen aus. Erst am Sonntagmorgen schafft sie es, sich via Sprachnachricht zu melden: "Jeder hier in Gaza ist isoliert von der Welt, jeder hier ist auch isoliert von anderen Städten. Das macht die ganze Situation noch schwieriger. Unter diesen Umständen die eigene Familie nicht erreichen zu können, macht einen fast ohnmächtig im Leben."

Wie viele Menschen im Gazastreifen seit Beginn des Kriegs ums Leben gekommen sind, lässt sich unabhängig nicht überprüfen. Das Gesundheitsministerium in Gaza, das von der militant-islamistischen Hamas kontrolliert wird, spricht von mehr als 8.000 Toten. Mehr als zwei Drittel der Opfer seien diesen Angaben zufolge Frauen und Minderjährige.

59 UN-Mitarbeiter unter den Opfern im Gazastreifen

Unter den Opfern sind auch Mitarbeiter des UN-Hilfswerks. "Wir haben 59 Kolleginnen und Kollegen verloren", erklärt Marta Lorenzo, Direktorin der europäischen Vertretung, im ARD-Interview. "Sie alle waren humanitäre Helfer. Wir sprechen von Lehrern, Schulleitern, Ärzten, Ingenieuren." Menschen, so Lorenzo, die ihr Leben dieser Arbeit gewidmet hatten.

Das UN-Hilfswerk fordert eindringlich, Hilfslieferungen im erforderlichen Maß schnellstmöglich zuzulassen. Das Wohl der Zivilbevölkerung solle immer im Mittelpunkt stehen. Es gehe um ihre Versorgung und ihre Sicherheit – und die der Mitarbeiter und Einrichtungen der Hilfsorganisationen.

  • Zum Artikel: Netanjahu verkündet zweite Phase im Krieg gegen Hamas

Video: Gefechte und Plünderungen im Gazas-Streifen

Gefechte im Gazastreifen
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Gefechte im Gazastreifen

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