Die deutsche Außenministerin machte aus ihren Befürchtungen keinen Hehl: Mit jedem Tag wachse "das Risiko einer unbeabsichtigten Eskalation und eines umfassenden Krieges" zwischen Israel und der Hisbollah, warnte Annalena Baerbock am Montagabend vor einer international besetzten Sicherheitskonferenz in Herzljia.
Ihr US-Amtskollege Anthony Blinken wählte bei seiner Begegnung mit dem israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant in Washington ähnliche Worte: Er betonte, "wie wichtig es ist, eine weitere Eskalation des Konflikts zu vermeiden und eine diplomatische Lösung zu finden".
Schlüssel zur Lösung möglicherweise Rafah
Amerikas Generalstabschef Charles Brown wurde deutlicher: Ein israelischer Angriff auf den Libanon könnte einen umfassenderen Krieg auslösen, dem sich auch der Iran samt der verbündeten Milizen im Irak, in Syrien und im Jemen anschließen würden. Dies gelte vor allem dann, wenn die Hisbollah ihre Existenz gefährdet sähe. Israel habe das Recht auf Selbstverteidigung, so der US-Generalstabschef. Allerdings verfüge die Hisbollah über mehr militärische Fähigkeiten als die Hamas.
Die US-Regierung glaube, dass "der Schlüssel zur Lösung des Konflikts im Norden" darin liege, den israelischen Militäreinsatz in Rafah im Süden des Gazastreifens zu beenden, so analysiert das israelische Nachrichtenportal "N12". Israels Regierung wiederum bedränge das Weiße Haus: "Wir brauchen Munition, um für eine Operation im Libanon bereit zu sein."
Es herrscht schon seit acht Monaten Krieg
Die Überschriften über einen "möglichen Kriegsausbruch zwischen Israel und der Hisbollah" seien irreführend, stellt der politische Kommentator der israelischen Tageszeitung "Ha’aretz", Anshel Pfeffer, zutreffend fest. Nach "allen Maßstäben" gebe es bereits einen Krieg. Die Hisbollah feuere täglich Raketensalven und bewaffnete Drohnen auf israelische Gemeinden und Militärstützpunkte in Grenznähe ab. Und "Israel antwortet mit Angriffen auf Hisbollah-Ziele".
Unmittelbar nach dem Terrorüberfall der Hamas vom 7. Oktober setzte von Seiten der Hisbollah beständiger Beschuss auf das israelische Grenzgebiet ein, wobei die Intensität unterschiedlich stark ausfiel. Stets achtete die Hisbollah allerdings darauf, eine bestimmte Eskalationsschwelle nicht zu überschreiten, die eine massive israelische Vergeltung hervorrufen würde.
Zehntausende auf beiden Seiten auf der Flucht
Mehr als 60.000 israelische Bewohner der Grenzdörfer haben seit Kriegsbeginn ihre Wohnungen und Häuser verlassen müssen und wurden in andere Landesteile evakuiert. Auf libanesischer Seite flohen ebenfalls Zehntausende Menschen aus dem Grenzgebiet. Bislang fielen 28 Israelis und mehr als 500 Libanesen dem gegenseitigen Beschuss zum Opfer. "Rund zwei Drittel der Getöteten auf beiden Seiten", so Anshel Pfeffer in "Ha’aretz", "waren entweder israelische Soldaten oder Mitglieder der Hisbollah und anderer Terrorgruppierungen".
Solange der Gaza-Krieg anhalte, würde die Hisbollah ihren Beschuss auf israelische Grenzdörfer und Städte nicht einstellen. Deshalb müsse Israel, davon ist die US-Regierung überzeugt, so rasch wie möglich ihre Militäroffensive in Rafah einstellen, um so der Hisbollah die "offizielle Begründung" zu entziehen, weiter die israelische Grenzregion zu beschießen.
Israel kündigt Ende von Rafah-Offensive an
Das Weiße Haus drängt sehr auf eine rasche Beendigung der Kämpfe, um die drohende Eskalation im Norden Israels zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund sind auch die jüngsten Erklärungen des israelischen Generalstabschefs Herzl Halevi sowie von Premierminister Benjamin Netanjahu als Signale an Washington zu bewerten. "Wir nähern uns dem Punkt, an dem wir sagen können, dass wir die Rafah-Brigade aufgelöst haben und sie besiegt ist", wie Halevi vom israelischen Radiosender KAN zitiert wird.
In Rafah, so hatte die Armee vor Beginn ihrer Militäroffensive im äußersten Süden des Gazastreifens erklärt, befänden sich die letzten Kampfverbände der Hamas. Auch Netanjahu sprach davon, die militärischen Ziele in Rafah "weitgehend" erreicht zu haben.
Wie stark sind die Hisbollah-Milizen?
Die Hisbollah-Milizen verfügen nach Schätzungen der amerikanischen CIA über rund 150.000 Raketen und Marschflugkörper. Viele davon seien herkömmliche Katjuscha-Raketen. Es gebe aber auch Präzisionsraketen, Drohnen sowie Panzer-, Flug- und Schiffsabwehrraketen. Damit wäre die Hisbollah in der Lage, alle Landesteile Israels treffen. Der Hauptwaffenlieferant der schiitischen Hisbollah-Milizen ist der Iran. Die Waffen kämen in der Regel über den Landweg, also über Syrien und den Irak in den Libanon.
1982 nach dem israelischen Einmarsch in den Libanon gegründet, konnte die Hisbollah unter massiver Mitwirkung des Iran ihre militärische und politische Stellung im fragilen Libanon festigen und ausbauen. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah, seit 1992 nach der Tötung seines Vorgängers durch die israelischen Streitkräfte im Amt, benannte vor wenigen Jahren die Truppenstärke seiner Milizen mit 100.000 Mann. Amerikanische Geheimdienste schätzen, dass die Hisbollah deutlich weniger Kämpfer unter Waffen habe, rund 45.000 Mann.
Die Hisbollah entsandte nach dem Aufstand gegen den syrischen Machthaber Assad Einheiten ins Nachbarland und beteiligte sich an der gewaltsamen Unterdrückung der Proteste.
Lässt sich die Lage noch deeskalieren?
Die US-Regierung hat in der vergangenen Woche ihren Unterhändler Amos Hochstein in den Libanon geschickt, um dort an einer Entschärfung der angespannten Sicherheitslage entlang der israelisch-libanesischen Grenze mitzuwirken. Dabei habe Hochstein der Hisbollah über libanesische Gesprächspartner eine klare Botschaft vermitteln lassen, wie das amerikanische Nachrichtenportal "Axios" unter Berufung auf amerikanische und israelische Regierungskreise berichtet: Die Hisbollah würde sich verrechnen, wenn sie darauf setze, dass die US-Regierung Israel von einem Einmarsch in den Libanon abhalten würde, wenn die Hisbollah weiterhin ihren Beschuss des israelischen Grenzgebiets fortsetzen würde.
Nach der Abreise des US-Unterhändlers aus Beirut habe die Hisbollah Washington geantwortet: Sie sei nicht an einem Krieg interessiert, sei aber zuversichtlich, dass sie Israel schwer treffen könnte, falls israelische Truppen die Grenze in den Libanon überschreiten würden. Kurz darauf kam es in Washington zu intensiven Gesprächen der US-Regierung mit dem israelischen Sicherheitsberater Tzachi Hanegbi sowie dem Netanjahu-Vertrauten Ron Dermer. Die beiden israelischen Politiker hätten versichert, dass Israel nicht an einem Krieg mit der Hisbollah interessiert sei und eine diplomatische Lösung bevorzugen würde.
USA: Werden Israel gegen Hisbollah helfen
Auch das amerikanische Politmagazin "Politico" meldete unter Berufung auf zwei US-Regierungsquellen, dass Washington der Hisbollah eine "unverblümte Botschaft" habe zukommen lassen: Die Hisbollah müsse begreifen, dass die USA Israel helfen würden, sich zu verteidigen, falls die Hisbollah Vergeltung üben sollte. Innerhalb der US-Regierung hätten sich viele Offizielle mit der Möglichkeit jedoch nahezu abgefunden, "dass Israel in den kommenden Wochen einen größeren Schritt gegen die Hisbollah im Libanon unternehmen wird".
Die amerikanischen Geheimdienste glaubten, so "Politico" weiter, "dass Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah keinen Krieg will". Das Risiko eines "Krieges in diesem Monat" sei allerdings gestiegen, ebenso wie das Risiko einer Fehlkalkulation auf beiden Seiten.
Im Audio: Die zweite Front - Hisbollah und die Kriegsangst der Libanesen (15.12.2023)
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