Was mache ich mit 20.000 Euro? Mit dieser Frage darf sich die Koblenzer Medizinstudentin Annam Tahir beschäftigen. Im September 2022 hatte sie sich um das Projekt "Grunderbe" bei einer ihr bis dahin unbekannten Stiftung beworben. Erfolgreich.
Rückblick: Eine Freundin schickt Annam Tahir den Bewerbungs-Link, auf dem Weg zur Arbeit öffnet die damals 30-Jährige das Formular. Sie, die Gewinnspielen zunächst grundsätzlich skeptisch gegenübersteht, stellt fest: Die Zahl der abgefragten Daten ist überschaubar. Sie nimmt also kurz vor Ende der Bewerbungsfrist an der Verlosung teil. Es geht um ein sogenanntes Grunderbe von 20.000 Euro. Schon am nächsten Morgen kommt der Anruf. Annam Tahir und ihr Mann können es nicht fassen: "Das klang alles ganz surreal", erzählt sie heute. "Wir haben eine Woche gebraucht, um zu realisieren, dass wir wirklich gewonnen haben."
Stiftung lost junge Grunderben aus
Bei dem Projekt "Grunderbe" handelt es sich um einen Modellversuch der Stiftung "Ein Erbe für Jeden". Die Stiftung lost jedes Jahr zunächst drei Städte aus, in der sich Grunderbe-Interessierte bewerben können. Hauptsache, sie sind zum jeweiligen Zeitpunkt 30 Jahre alt und deutsche Staatsbürgerinnen oder Staatsbürger; und sie können nachweisen, bisher noch keine großen Summen geerbt oder geschenkt bekommen zu haben. So wie damals Medizinstudentin Tahir.
"Für mich sind 20.000 Euro eine Menge Geld", sagt sie, die bei der Bewerbung kurz vor ihrem Praktischen Jahr stand. "Ich komme aus einem sehr kleinen Haushalt, meine Eltern sind vor rund 30 Jahren aus Pakistan nach Deutschland geflohen." Sie ist mit drei Geschwistern aufgewachsen. "Viele Wünsche konnte ich mir in meiner Kindheit nicht erfüllen." Sie habe daher gelernt, vorsichtig mit Geld umzugehen.
Stiftungs-Ziel: Startchancen angleichen
Ziel der Stiftung "Ein Erbe für Jeden" ist es, die Startchancen junger Erwachsener anzugleichen. Es sei ungerecht, dass bestimmte Möglichkeiten nur einem kleinen, finanzstarken Teil der Bevölkerung zustehen, findet Stiftungsmitgründer Sebastian Prüm: "Wir sind für einen moderaten Eingriff, der die Verteilung des Kapitals verbessert."
Er hält das für sinnvoller als regelmäßige Zahlungen, die unter Umständen nicht dazu motivieren würden, selbst aktiv zu werden. Die Stiftung will das Erbrecht nicht abschaffen, sondern ergänzen.
Grunderbe in diesem Projekt nicht sofort verfügbar
Die 20.000 Euro bekommen die Erben nicht sofort. Das Geld wird zunächst nach Absprache mit der Stiftung drei Jahre angelegt. "Bei dieser Karenzzeit von drei Jahren geht es darum, dass sich derjenige daran gewöhnen kann, etwas zu besitzen", sagt Sebastian Prüm, einer der drei Stiftungsgründer und -gründerinnen.
Die Grunderbin aus Koblenz, Annam Tahir, findet das eine gute Idee. "Damit ich mir auch Gedanken machen kann, was für mich und für meine Familie am besten ist." Sie hat einen Sohn im Grundschulalter und mit ihrem Mann viel über den Verwendungszweck der Summe nachgedacht. Nach der Karenzzeit können Grunderben wie Annam Tahir komplett selbst entscheiden, was sie tun wollen.
Für die kommenden zwei Jahre ist der Topf, aus dem pro Jahr drei Grunderben gezahlt werden können, durch Spenden gedeckt. Das Geld kommt von Privatpersonen – beispielsweise auch vom Softwareentwickler Prüm, der gleichzeitig Stiftungsratsvorsitzender ist. Er selbst hat in der Vergangenheit 20.000 Euro Startkapital von seinen Eltern bekommen. Der Effekt dieses Geldes geht für ihn über die Frage, wofür man es ausgibt, hinaus: "Es ändert, dass man zum Beispiel gegenüber einem Arbeitgeber souveräner auftreten kann, weil man weiß: Ich habe hier Sicherheit im Hintergrund."
Grunderbe für alle oder nur ein Modellversuch?
Seine Stiftung will über die Auswirkungen eines Grunderbes forschen. Sie sammelt Daten und interviewt die ausgelosten Grunderben beispielsweise regelmäßig. "Was dann die Politik oder die Gesellschaft daraus macht, liegt nicht in unserer Hand", sagt Sebastian Prüm.
Auch in der Politik wird seit einigen Jahren über ein Grunderbe diskutiert – dann allerdings für alle. Nach Vorstellung der SPD-Jugendorganisation Jusos sollen 60.000 Euro pro junger Person ausgezahlt werden. Linken-Chef Schirdewan fordert 50.000 Euro. Als Unionsvorschlag hat der damalige CDU-Generalsekretär Mario Czaja im vergangenen April 10.000 Euro Startkapital vorgeschlagen. Die FDP und AfD sind gegen ein Grunderbe. FDP-Parteichef und Bundesfinanzminister Christian Lindner sagte auf seinem eigenen YouTube-Kanal, das Geld solle lieber in Bildung investiert werden.
Das Deutsche Institut zur Wirtschaftsforschung empfiehlt 20.000 Euro. Also die Summe, die auch von der Stiftung "Ein Erbe für Jeden" ausgezahlt wird. Ein solches Grunderbe solle durch Abgaben aus einer Vermögens- und Erbschaftssteuer finanziert werden. Und wie die Stiftung rät auch das Forschungsinstitut zum Anlegen. Eine Vermögenssteuer ist in Deutschland seit 1997 ausgesetzt.
Stiftungs-Grunderbin spart auf eigene Immobilie
Annam Tahirs Geld liegt im Moment in einem Bausparvertrag. Bald ist sie mit dem Medizinstudium fertig. Tahir hat den Wunsch, mit ihrem Mann und ihrem Kind irgendwann in eine eigene Immobilie zu ziehen. Aber auch jetzt hat sich ihr Leben schon verändert – mit größerem Sicherheitsgefühl spart sie weniger: "Wir haben Dinge unternommen, die wir vorher gar nicht für möglich gehalten hätten, zum Beispiel einen schönen Urlaub oder dass man dem Kind auch mal was gönnt. Spielsachen, die man sich sonst nicht gekauft hätte." Ihr sei es zudem wichtig, an wohltätige Organisationen zu spenden. "Weil ich so glücklich bin, so etwas gewonnen zu haben."
Dieser Artikel ist erstmals am 27. Januar 2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.
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