Am 7. Oktober fielen Hamas-Terroristen in Israel ein, töteten und entführten Hunderte Jüdinnen und Juden. Israel schägt seit Wochen mit Luftangriffen und Bodentruppen zurück. Der Konflikt hat auch Auswirkungen auf das Leben in Deutschland: Neben vielen Solidaritätsbekundungen mit Israel wurden bereits am Abend des Hamas-Überfalls in Berlin "From the river to the sea, Palestine will be free"-Rufe dokumentiert.
Der Ruf nach einem zusammenhängenden palästinensischen Gebiet vom Fluss Jordan bis zur Mittelmeerküste und somit im Grunde über das komplette Gebiet des Staates Israel stellt das Existenzrecht dieses Staates infrage. Die Losung wird von der Berliner Staatsanwaltschaft mittlerweile als Volksverhetzung eingestuft.
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Anstieg antisemitischer Vorfälle in Deutschland
Für die jüdische Autorin und Leiterin der Stelle Kommunikation bei der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland e.V., Laura Cazés, ist der Antisemitismus, der sich nun auch auf deutschen Straßen offen zeigt, sehr besorgniserregend. Nicht nur die Zahl der Übergriffe, sondern auch die Qualität und die Gewaltbereitschaft hätten zugenommen. "Das reicht von Anfeindungen, Beleidigungen oder Übergriffen in den sozialen Medien bis hin zu körperlicher Gewalt."
Die OFEK, eine Beratungsstelle für Betroffene von antisemitischen Übergriffen, berichtet, dass die Anfragen auf dem hebräischen Seelsorge-Telefon Matan seit dem 7. Oktober von 11 auf 71 gestiegen seien. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern hat vom 7. Oktober bis 9. November 148 antisemitische Vorfälle dokumentiert. Das entspreche einem Zuwachs von 285 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Erst am Dienstag liefen bayernweit Razzien mit Bezug auf antisemitische Hetze. Dabei sollen 15 Männer und zwei Frauen im Alter von 18 bis 62 Jahren tatverdächtig sein. Die Vorwürfe: Volksverhetzung, Verwendung verfassungswidriger und terroristischer Organisationen sowie die Billigung von Straftaten. Durchsucht wurden insgesamt 17 Objekte in sechs bayerischen Regierungsbezirken.
Die Angriffe auf Jüdinnen und Juden erstrecken sich aber auch stark auf die sozialen Netzwerke. Der Verein RIAS, beschreibt, wie beispielsweise auf X (vormals Twitter) jemand mit den Worten bedroht wurde: "Du dummer Idiot, die Hisbollah wird euch flachlegen. 350.000 Soldaten und 900.000 Raketen sind bereit für Israel." Solche Anfeindungen treten seit dem Angriff der Hamas gehäuft auf.
Antisemitismus in allen gesellschaftlichen Milieus
Cazés kritisiert, dass das Problem des Antisemitismus von deutschen Institutionen häufig nicht benannt werde. So sei in der öffentlichen Wahrnehmung Antisemitismus, wie etwa die Anschläge in Halle, häufig ein reines Problem der rechtsextremen Szene. "Wenn es jetzt um israelbezogenen Antisemitismus geht, dann wird das Problem häufig ausgelagert auf bestimmte gesellschaftliche Milieus, wie eben migrantische Communitys. Was aber dann häufig nicht verstanden wird, ist, dass Antisemitismus ein Querschnittsthema ist, das eben nicht unbedingt nur mit bestimmten Bildungsangeboten für bestimmte Gruppen bekämpft wird", sagt Cazés. Der Antisemitismus ziehe sich durch jedes gesellschaftliche Milieu.
Sie kritisiert, dass infolgedessen auch Bildungs- und Aufklärungsangebote für bestimmte Gruppen verfehlt seien. Beim Antisemitismus handele es sich vielmehr um ein geschlossenes Weltbild, das vom Bildungsbürgerlichen bis in prekäre Schichten reiche. Sie warnt auch vor israelbezogenem Antisemitismus: "In dieser vermeintlichen Israelkritik oder Kritik gegen den Staat Israel stecken ganz häufig sehr antisemitisch aufgeladene Bilder, wie beispielsweise, der israelische Staat ist der mächtigste Staat im Nahen Osten."
Cazés nennt daneben auch Sprachbilder, wie die des jüdischen Kindermörders. Wichtig ist ihr zu betonen, dass, auch wenn eine antisemitische Äußerung, wie etwa "die Mächtigen da oben", sich nicht direkt gegen Jüdinnen und Juden richte, diese doch am Ende die Auswirkungen zu spüren bekämen.
BR-Themenabend: "Krieg in Nahost"
Wie konnte der Antisemitismus so schnell noch aggressiver werden? Welche Rolle spielen Vorurteile und Nichtwissen über den Konflikt in Nahost? Und: Was kann gegen diesen Hass getan werden? Dazu veranstaltet der BR heute einen Themenabend.
In Reportagen, Gesprächen und Schalten in die Krisenregion werden diese Fragen ausführlich in einem großen Themenabend im BR Fernsehen analysiert und diskutiert. Gäste sind die deutsch-israelische Unternehmerin Jenny Havemann, der Vorsitzende des Palästina-Forums Bonn, Aref Hajjaj, der Psychologe und Publizist Ahmad Mansour und Andreas Reinicke, ehemaliger EU-Sonderbeauftragter für den Nahost-Friedensprozess und jetziger Direktor des deutschen Orient-Instituts. Moderiert wird der Abend von Christian Nitsche und Susanne Glass.
Der BR-Themenabend "Krieg in Nahost – Antisemitismus in Deutschland" ab 20:15 bis 23:00 Uhr live im BR Fernsehen oder im Stream bei BR24. In einer Sendepause von 21:45 bis 22:00 Uhr haben Sie bei BR24 die Möglichkeit Ihre Fragen zum Krieg in Nahost zu stellen. Der Nahost-Experte und ehemaliger Korrespondent des BR in Tel Aviv, Clemens Verenkotte, beantwortet Ihre Fragen live.
Im Video (Archiv): Antisemitische Vorfälle im Alltag
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