Für Joana Osman ist es immer wieder aufwühlend, sich mit ihrer palästinensischen Identität auseinanderzusetzen, vor allem zurzeit. Und doch führt für die Münchner Autorin kein Weg daran vorbei. Sie sagt: "Ich glaube, das Thema Identität ist das zentrale Thema von Palästinenserinnen und Palästinensern." Die palästinensische Identität zeichne sich laut Osman durch Widersprüche, durch biografische Brüche aus.
Osmans Familie muss 1948 aus ihrer Heimatstadt Jaffa fliehen. Zunächst in den Libanon, später nach Deutschland. Diese für Osman konfliktbehaftete Geschichte hat sie in ihrem neuen Buch "Wo die Geister tanzen" aufgearbeitet. "Für mich fühlt es sich ein bisschen zerrissen an. Ich bin einerseits deutsche, andererseits habe ich palästinensische Wurzeln", erzählt Osman. Eigentlich wolle sie beide Seiten leben, auch weil die palästinensische Identität anders sei als die von anderen arabischen Völkern. Das Problem sei nur, sagt Osman: "Ohne einen Staat und mit einem Volk, das in der Diaspora steht, ist das sehr schwierig zu leben."
Die Geschichte der Palästinenser in Deutschland
Mehrere Hunderttausend Palästinenserinnen und Palästinenser leben in Deutschland. Einige mit israelischem, andere mit libanesischem oder jordanischem Pass. Einige sind auch staatenlos, haben gar keinen Pass. Das bedeutet, dass sie oft nicht arbeiten können, ihnen Bildung verwehrt bleibt und das Reisen in andere Länder schwerer ist.
"Es ist kein Spaß, Palästinenser in Deutschland zu sein", sagt der Soziologe Imad Mustafa. An der Universität Bamberg hat er zu antimuslimischem Rassismus und davor zu Palästinensern in Deutschland geforscht. Die ersten Palästinenser seien in den 60er Jahren nach Deutschland gekommen, als Arbeitsmigranten, erklärt Mustafa, der selbst palästinensische Wurzeln hat. In den 70er Jahren kam dann eine zweite Welle, hauptsächlich durch Studentenvisa. Damals traten viele Migranten der "Generalunion Palästinensischer Studenten", kurz GUPS, bei. Nach dem Olympia-Attentat 1972 wurden viele der GUPS-Palästinenser allerdings wieder aus Westdeutschland abgeschoben. Viele gingen dann in die DDR, weil die ihre Beziehungen mit den Palästinensern in dieser Zeit ausweitet. Auch deshalb, erklärt Mustafa, gelte Berlin heute als Palästinenser-Hauptstadt Europas.
Aktuelle Debatten über Palästinenser zeigen verzerrtes Bild
Imad Mustafa hat auch aktuelle Diskurse analysiert. Diese würden nicht unbedingt die Lebensrealität vieler Palästinenser in Deutschland spiegeln, erklärt der Soziologe: "Wenn man sich die Palästina-Debatte anguckt, dann muss man konstatieren, dass hier eine Schwerpunktsetzung erfolgt, die Palästinenser islamisiert." Dies sei ungewöhnlich, da viele Palästinenser in Deutschland laut Mustafa eher säkular geprägt sind. Und in Palästina gebe es neben Muslimen auch viele Christen. Auf der anderen Seite kritisiert Mustafa, "dass immer wieder die Rede davon ist, dass Palästinenser eben antisemitisch seien."
Palästinenser und Antisemitismus
Trotzdem kam es nach dem 7. Oktober zu antisemitischen Parolen bei Pro-Palästina-Demos. Einige feierten auf offener Straße die Gräueltaten der Hamas. Der Aktivist und ehemalige Linken-Politiker Jules El-Khatib verurteilt das. Er kritisiert die Hamas, aber auch die israelische Politik, setzt sich für Frieden und einen Waffenstillstand ein. "Gewalt ist immer etwas, das wir verurteilen sollten", sagt El-Khatib. Trotzdem, erzählt der Palästinenser, der einen deutschen und einen israelischen Pass hat, werde er im Netz häufig wegen Antisemitismus oder Hamas-Propaganda beschuldigt. Die BILD-Zeitung nannte ihn sogar einen Israel-Hasser, kritisierte unter anderem, dass El-Khatib eine Nähe zur BDS-Bewegung habe, die Israel boykottiert. El-Khatib selbst sieht das ganz anders, sagt im BR24-Interview, dass er dort nie Mitglied war. Zu Hamas und BDS betont er auch: "Man wird andauernd gefragt, man solle sich von irgendeiner palästinensischen Organisation oder Partei distanzieren. Eine Distanzierung bedeutet aber, dass man eine Nähe hatte."
Palästinenser werden häufig früh politisiert
Jules El-Khatib hat noch Familie in Gaza. Er bangt um ihr Überleben, drückt aber auch Mitgefühl für die von der Hamas grausam ermordeten Juden aus. Seine Perspektive, betont er, bleibe eine pazifistische: "Ich würde mir wünschen, dass ich nicht darüber berichten muss, dass die dreijährige Tochter meines Großcousins gestorben ist", sagt der Aktivist. "Und übrigens: Ihre Familie stand in Opposition zur Hamas." Die Familienmitglieder, die Präsenz des Nahostkonflikts seit Jahren, glaubt El-Khatib, führe dazu, dass man als Palästinenser in Deutschland schon früh politisiert wird.
Gemeinsamkeiten von Juden und Palästinensern in Deutschland
Die Münchner Autorin Joana Osman hofft indes auf das Verbindende zwischen Israelis und Palästinensern, vor allem hier in Deutschland. "Ich habe nie empfunden, dass Israelis und Palästinenser weit auseinanderliegen", erklärt Osman. Ihre Begründung: Diskriminierung, Vertreibung, Flucht – eigentlich würden sich die Lebensrealitäten von Israelis und Palästinensern gar nicht so stark unterscheiden. Das werde vor allem deutlich, wenn man miteinander ins Gespräch gehe. Denn die Geschichten beider Seiten haben für die Autorin trotz des andauernden Konflikts sehr viel gemeinsam.
"Krieg in Nahost – Antisemitismus in Deutschland. Was tun gegen den Hass?" Darüber diskutieren am Mittwochabend um 20:15 Uhr im BR Fernsehen: Die deutsch-israelische Unternehmerin Jenny Havemann, der Vorsitzende des Palästina-Forums Bonn, Aref Hajjaj, der Psychologe und Publizist Ahmad Mansour und Andreas Reinicke, ehemaliger EU-Sonderbeauftragter für den Nahost-Friedensprozess und jetziger Direktor des deutschen Orient-Instituts. Ein Themenabend zur aktuellen Lage in Nahost.
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